Bis vor kurzem sprach die achtjährige Evanthia in der Öffentlichkeit kein Wort. Zu groß war ihre Angst. Bis sie Lehrerin Martina Kaup traf.
„Sie erstarren vor Angst“Wenn Schüler nicht laut sprechen – und wie eine Kölner Lehrerin ihnen hilft
Evanthia lächelt. Sie schaut mich mit ihren großen, wachen Augen an. Ich grüße sie und rede ein paar Sätze. Sie aber bleibt stumm. Das ganze Treffen über sagt sie kein einziges Wort. Nur einmal flüstert die Achtjährige ihrer Mama kaum hörbar etwas ins Ohr und lehnt sich dabei eng an sie. „Laut zu sprechen macht ihr Angst“, sagt die Mutter, „sie versteckt sich gerne hinter mir, wenn jemand sie anspricht. Lange Zeit redete sie weder mit Gleichaltrigen noch mit Erwachsenen.“ Zu Hause sei das völlig anders: „Mit uns hat sie schon immer ganz normal gesprochen. Manchmal ist es so, als wäre sie zwei verschiedene Kinder.“
Wenn Menschen in der Lage sind zu sprechen, es ihnen aber in bestimmten Situationen wiederkehrend nicht gelingt, heißt die Diagnose selektiver Mutismus. Es ist eine psychische Erkrankung und gehört zu den Angststörungen. Rund ein Prozent der Kinder sind davon betroffen. In der Regel entwickelt sich selektiver Mutismus im Alter zwischen zwei und fünf Jahren. „Als Evanthia zweieinhalb war, ist mir ihr Verhalten das erste Mal bewusst aufgefallen“, erzählt ihre Mutter, „im Kindergarten sprach sie mit niemandem und wurde deshalb oft beim Spielen ausgeschlossen.“ Aber auch schon als Baby sei das Mädchen sehr anhänglich gewesen. „Ich habe sie teilweise Stunden nicht von meinem Schoß herunterbekommen.“
Selektiver Mutismus ist vor allem Veranlagung
Dass Evanthia immer schon still und gehemmt war, ist typisch für das Störungsbild. Die Ursachen sind individuell, der stärkste Faktor aber ist die Veranlagung. „Bei einer Studie kam heraus, dass 95,8 Prozent der mutistischen Kinder auf mindestens einer Elternlinie das Merkmal stilles, gehemmtes Naturell aufwiesen“, sagt der Kölner Mutismus-Experte Boris Hartmann, „bei knapp 75 Prozent gab es Ängste oder Depressionen auf mindestens einer Elternlinie.“ Es werde von einer annähernd gleichen Verteilung der Geschlechter ausgegangen. Kein Auslöser, aber ein verstärkender Punkt sei aber Mehrsprachigkeit. „21,4 Prozent der mutistischen Kinder wachsen bilingual auf.“ Auch in Evanthias Fall gibt es mit Griechisch eine zweite Sprache in der Familie. Sie hat außerdem ein Familienmitglied, das still und zurückgezogen ist.
„Anders als lange vermutet, ist Mutismus also nicht die Folge eines Traumas oder einer schwierigen Familiensituation“, sagt Hartmann. Bildungsschicht und Milieu spielten ebenso keine Rolle. „Selektiver Mutismus darf auch nicht mit einer Autismus-Spektrum-Störung verwechselt werden, die beiden Störungsbilder schließen sich aus.“ Überschneidungen könne es dagegen beispielsweise mit Anorexie, Lernbehinderung oder Hochbegabung geben. „Und sehr viele Mutisten haben eine Sozialphobie.“ Das beobachte er täglich in seiner Praxis: „Ich höre Kinder im Wartezimmer mit ihren Eltern scherzen und ein Lied trällern, doch wenn ein Mitarbeiter in den Raum kommt, sind sie plötzlich ganz still.“
In der Klasse flüsterte Evanthia anfangs nur
Ein Besuch in Evanthias Klasse an der Förderschule Sprache in Köln-Deutz. Die Pause ist gerade vorbei, die Kinder kommen zurück in den Klassenraum. Sie plappern und bewegen sich lebhaft durch den Raum. Evanthia ist zwar ruhig, aber ganz natürlich mittendrin. Klassenlehrerin Martina Kaup erinnert sich noch an die ersten Monate mit ihr: „Sie war extrem zurückhaltend, hielt sich am Rand auf und hat erst einmal nur beobachtet. Wenn sie überhaupt sprach, flüsterte sie leise. Ich musste ganz nah an sie herantreten, um sie zu verstehen.“
Je unangenehmer eine sprachliche Situation ist, desto eher verschließen sich Mutisten, und das betrifft oft den ganzen Körper. „In diesen Momenten frieren die Kinder regelrecht ein, sie erstarren auch äußerlich“, erzählt Martina Kaup, „bei Evanthia ging das manchmal so weit, dass sie nicht zeigen konnte, wenn sie zur Toilette musste – plötzlich war eine Pfütze unter ihrem Stuhl.“ Inzwischen könne sie diese Bedürfnisse frühzeitig äußern.
Die Schule ist schwierig für Mutisten, aber auch ein guter Übungsort
„Ich hatte in meiner Klasse aber nicht nur Evanthia, sondern noch zwei weitere mutistische Kinder“, erzählt Kaup. Das sei in der Häufung selten. Um intensiv mit den Dreien arbeiten zu können, habe sie sich weitergebildet und viel ausprobiert. „Gerade die Schule ist für die Kinder ein guter Übungsort, weil sie hier die Gruppensituationen nicht vermeiden können.“ Manchmal fordere sie sie sogar bewusst heraus. „Dann gebe ich Evanthia den Auftrag, sich vor die Klasse zu setzen und vorzulesen. Das ist eine harte Konfrontation“, erzählt sie, „es ist aber wichtig, dass sie solche Momente dosiert trainiert.“ Und es klappe immer besser. „Mein Ziel ist, dass die Kinder laut sprechen können, wenn sie die Schule verlassen.“ Ihr Wissen gibt Kaup regelmäßig an Infoabenden weiter. „Hier unterstütze ich Lehrkräfte von Regelschulen, die mutistische Kinder in ihren Klassen haben.“
Mit ihren Mitschülern hat Evanthia Glück. „Keiner hier lacht sie aus, weil sie wenig spricht“, sagt Martina Kaup. Das Mädchen sei den anderen gegenüber auch immer offen gewesen. Trotzdem komme es zu Missverständnissen. „Da mutistische Kinder kaum verbale und körperliche Reaktionen zeigen, ist die soziale Interaktion gestört.“ Evanthia könne schwer zeigen, wie sie sich fühle oder wenn ihr etwas nicht gefalle. „Dass sie in der Schule etwas belastet, kommt oft erst Zuhause explosionsartig heraus“, erzählt Kaup, „sie ist schon aus dem Schulbus gestiegen, hat sich auf den Boden geschmissen und geschrien.“ Auch daheim wüte, schreie und haue sie manchmal, um ihren Willen zu kriegen, sagt die Mutter. „Die älteren Geschwister müssen viel zurückstecken.“
Die Familie passt sich oft an das mutistische Kind an
Nicht selten stelle sich die ganze Familie auf das mutistische Kind ein, so die Lehrerin. „Weil diese Kinder ihre Eltern besonders brauchen, entsteht eine enge Eltern-Kind-Symbiose. Die Eltern lassen es dann oft zu, wenn das Kind Situationen vermeiden möchte.“ Daher seien solche Kinder oft unselbständiger. „Manche von ihnen sind manipulative Schweiger und haben in der Familie alle im Griff.“ Es sei deshalb ganz wichtig, bei der Therapie auch die Eltern mit ins Boot zu holen. „Sie müssen die Umklammerung lösen, den Kindern normale Aufgaben geben und sie darin bestärken, Dinge alleine zu tun.“ Vor allem aber sollten sie ihr Kind Alltagssituationen üben lassen, zum Beispiel beim Bäcker Brötchen zu bestellen. „Und zwar, ohne dass Erwachsene als Sprachrohr fungieren.“
Weil selektiver Mutismus vor allem ein Kommunikationsproblem ist, werden Betroffene primär von Sprachtherapeuten und Logopäden behandelt. Die Angststörung ist therapierbar. Es gibt verschiedene Therapieansätze. Evanthia hat inzwischen eine Mutismus-Behandlung bei Herrn Hartmann begonnen. „In unserer Therapie verknüpfen wir Schritt für Schritt Sprechen und Emotionen neu“, erklärt er, „wir starten dabei mit Lauten und Silben, schon diese laut zu sagen, ist für viele richtig schwer.“ Die Behandlung dauere im Kindesalter etwa neun Monate, ab dem Jugendalter rund 18. „Und die Nachfrage ist riesig, Betroffene kommen aus dem ganzen Bundesgebiet zu uns.“
Jugendliche Mutisten sind häufig isoliert – mit teils schlimmen Folgen
Es sei immens wichtig, das Thema Mutismus bereits im Kindesalter anzugehen, unterstreicht Martina Kaup. Denn je älter mutistische Kinder seien, desto eher gerieten sie in eine Außenseiterrolle. „Die allergrößte Gefahr ist die soziale Isolation im Jugendalter. Dann werden diese Kinder oft als sonderbar wahrgenommen und ausgeschlossen.“ Häufig könnten sie schwerer Kontakte knüpfen. Auch der Start einer Ausbildung sei ohne Sprechen schwierig. „Schlimmstenfalls kann das zu Schulphobie, Essstörungen, Depressionen oder Suizidgedanken führen.“
Evanthia hat schon große Fortschritte gemacht. „Sie wird das Sprechen in Spontansituationen weiterhin vermeiden wollen“, erklärt Kaup, „aber sie schafft es jetzt, ihre Angst zu überwinden und in der Klasse laut zu reden, wenn ich sie darum bitte.“ Ihr Selbstbewusstsein sei gestiegen. Das bestätigt auch ihre Mutter: „Sie ist viel offener und kann sogar in einem Geschäft nach etwas fragen.“ Und sie traue sich jetzt auch, draußen alleine Fahrrad zu fahren. „Das alles haben wir Frau Kaup zu verdanken, sie ist echt ein Engel.“
Bei einem himmlischen Erlebnis zeigte sich auf jeden Fall deutlich, wie weit Evanthia schon gekommen ist. „Für das Weihnachtskonzert der Schule sollte sie vor knapp 250 Leuten zwei Zeilen eines Lieds solo singen“, erzählt Martina Kaup, „und sie hat es tatsächlich geschafft!“ Auch ihre Mutter war beeindruckt: „Ich habe fast geheult vor Freude, als ich das sah. Nie habe ich gedacht, dass sie das mal können würde.“
Mehr zum Thema: Mutismus Selbsthilfe e.V. oder StillLeben e.V.