Pippi Langstrumpf wird 75Wo sind all die frechen Mädchenfiguren hin?
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Am 21. Mai wird Pippi Langstrump 75 Jahre alt
Das Buch war eine riesengroße Revolution. Damals sollten Kinderbücher Mädchen eigentlich auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereiten.
Heute sind viele Bücher wieder klar rosa gelabelt – Was ist also aus Pippis Erbe geworden?
Köln – „Ja, die Zeit vergeht, und man fängt an, alt zu werden“, sagt Pippi Langstrumpf im zweiten Band „Pippi Langstrumpf geht an Bord“. „Im Herbst werde ich zehn Jahre alt, und dann hat man wohl seine besten Tage hinter sich.“ Von wegen! 75 Jahre alt wird sie am Donnerstag – und ihre besten Tage, die hat sie noch lange nicht hinter sich. Seit drei Generationen wachsen Kinder mit der Geschichte des rothaarigen Mädchens auf, das ohne Eltern in der Villa Kunterbunt lebt – und das macht, was ihm gefällt. Doch, was hat das mit uns gemacht? Und wie steht es um Pippis Erbe? Wo sind all die frechen Mädchen in der Kinderliteratur geblieben?
Sie könne nur hoffen, dass man nicht das Jugendamt rufe, schrieb Astrid Lindgren, als sie das Manuskript im Jahr 1944 beim größten schwedischen Buchverlag „Bonniers“ einreichte. Denn dass ihre Geschichten um das wilde Mädchen explosiven Inhalts waren, war der Autorin durchaus bewusst. Schließlich war sie selbst in der Verlagswelt tätig.
Doch Bonniers lehnte ab, eineinhalb Jahre später, im November 1945, veröffentlichte dann der Konkurrenzverlag Rabén & Sjögren die überarbeitete Geschichte. Die Kinder liebten Pippi von Anfang an, doch schon bald mehrte sich in Schweden die Kritik von Pädagogen. Auch im nachkriegsgebeutelten Deutschland wollte zunächst niemand Pippi Langstrumpf verlegen – bis Friedrich Oetinger das Potenzial der Geschichte erkannte. 1949 erschien Pippi Langstrumpf erstmals in Deutschland.
„In der wenigen Kinder- und Jugendliteratur, die es nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland noch gab, waren die Rollenbilder sehr tradiert: Die Mädchen sollten auf ihr Dasein als Hausfrau und Mutter vorbereitet werden, die Jungs auf ihre Rolle als Ernährer und Ehemänner. Da fällt Pippi natürlich total aus der Rolle“, sagt Ines Dettmann, Leiterin des Jungen Literaturhauses in Köln. Und zwar nicht nur mit ihrem wilden Erscheinungsbild, den roten, abstehenden Zöpfen, dem viel zu kurzen Kleid und den unterschiedlichen Strümpfen, sondern vor allem mit ihrem Verhalten. Pippi ist unangepasst, anarchisch, frei, neugierig, wissbegierig, gerechtigkeitsliebend, warmherzig, lustig – kurz: sie ist wohl die erste selbstbewusste Mädchenfigur in der Kinderliteratur. Und sie ist stark. So stark, dass sie ihr Pferd Kleiner Onkel problemlos tragen kann.
Unter anderem das mache sie zu einer Figur der fantastischen Literatur, sagt Gabriele von Glasenapp, Professorin in der Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendmedienforschung (Aleki) der Universität zu Köln. Neben den Nachfolgern der Backfischliteratur gab es in den 40er- und 50er-Jahren nämlich auch eine romantisch-fantastische Strömung in der Kinder- und Jugendliteratur: „Kindheit galt als etwas Besonderes, das sich grundlegend vom Erwachsensein unterschied“, sagt von Glasenapp. In dieses Denken passte so eine verrückte Figur wie Pippi Langstrumpf natürlich gut rein.
Warum Kinder Pippi lieben
Klar ist: „Das Buch war bei Erscheinen eine riesengroße Revolution in Deutschland und wurde von vielen Eltern abgelehnt – oftmals wohl auch ungelesen“, sagt Ines Dettmann. Vermutlich machte es gerade das besonders attraktiv. In 77 Sprachen wurden die Geschichten von Pippi Langstrumpf übersetzt und insgesamt mehr als 66 Millionen Mal verkauft. 20 Prozent seines Jahresumsatzes macht der Oetinger-Verlag mit den Lindgren-Werken. Heute hat kein Elternteil mehr Bedenken, die Geschichte von dem frechen Mädchen seinen Kindern vorzulesen. Doch was macht Pippi heute noch so beliebt bei den jungen Lesern?
„Schon lange vor der Pubertät träumt doch jedes Kind davon, auch mal alleine zu sein, ohne die Eltern. Pippi lebt diese Größenfantasie stellvertretend für alle Kinder aus“, sagt Gabriele von Glasenapp. Das sei ein Grund für den jahrzehntelangen Erfolg von Pippi Langstrumpf. Ein anderer ist das Setting: Die Villa Kunterbunt steht irgendwo im Nirgendwo, die kleine, kleine Stadt ist weder zeitlich noch räumlich genau verortet. Pippi wird nie erwachsen. Und genau das reizt Kinder auch heute noch. „Das ist eine der großen Stärken von fantastischer Literatur“, sagt von Glasenapp. „Realistische Kinder- und Jugendbücher sind viel stärker an die Zeit gebunden, in der sie spielen. Fantastische Literatur hat eine sehr viel längere Halbwertszeit.“
Eine feministische Ikone
Die Stilisierung von Pippi Langstrumpf zu einer feministischen Ikone hat übrigens erst zwanzig Jahre nach ihrem Erscheinen eingesetzt, nämlich während der zweiten Frauenbewegung in den 70er-Jahren. Da wurde Pippi sozusagen wiederentdeckt. Und heute? Wie passt das nahezu geschlechtslose Mädchen noch in diese Welt, in der es Buchhandlungen mit blauen und rosa Ecken gibt, Buchreihen, die mit dem Prädikat „für Mädchen“ oder „für Jungs“ gelabelt sind und in der Elsa aus „Die Eiskönigin“ zur Lieblingsfigur aller kleiner Mädchen mutiert ist?
„Naja, immerhin ist Elsa noch ein geflochtener Zopf von Pippi geblieben“, sagt Ines Dettmann und lacht. Dass es auch heute noch Mädchenliteratur gebe, die den klassischen Rollenbildern folge, findet Dettmann wichtig. „Es gibt Phasen in der Entwicklung, wo Kinder so eine ganz geordnete Welt brauchen.“ Trotzdem habe Lindgren mit Pippi Langstrumpf langfristig etwas in der Kinder- und Jugendliteratur ausgelöst: „Sie hat es geschafft, dass Autoren selbstbewusste Mädchen in den Mittelpunkt von Geschichten stellen, die Kindern Mut machen, so zu sein wie sie sind.“ Dazu zählten etwa Figuren wie die rebellische Hedvig von Frida Nilsson oder Lola der deutschen Autorin Isabel Abedi.
Kinderliteratur ist vielfältig
„Die Kinderliteratur der Gegenwart ist vor allem durch Vielfältigkeit geprägt“, sagt Gabriele von Glasenapp. „Es gibt nicht die eine prägende Strömung. Aber natürlich haben Züge von Pippi Langstrumpf in abgewandelter Form überlebt: Es existieren heute für fast alle Altersgruppen Texte mit starken Mädchenfiguren.“ Sie denkt an Momo, Katniss aus „Die Tribute von Panem“ oder Hermine aus „Harry Potter“. Ihnen allen und vielen anderen Figuren hat Pippi zum Glück ein paar Gene vererbt. Und so hoffentlich auch einige junge Leser und Leserinnen dazu ermutigt, sich die Welt zu machen, wie sie ihnen gefällt. Wir sagen: Herzlichen Glückwunsch zum 75. Geburtstag!