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Toxische Beziehung„Manchmal war mein Vater ein Held, aber meistens war er nicht da“

Lesezeit 8 Minuten
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Die Journalistin Nora Gantenbrink hat einen Roman über ihren abwesenden Vater geschrieben. 

Frau Gantenbrink, Sie haben ein Buch über eine junge Frau geschrieben, die mehr oder weniger ohne ihren Vater aufgewachsen ist. Der Vater war sehr freiheitsliebend, reiste viel, nahm Drogen und fühlte sich vom Familienleben in der Provinz eingeengt. Manchmal war er da und der Held, viele wichtige Momente im Leben der Protagonistin hat er aber verpasst. Warum dieses Buch?Nora Gantenbrink: Ich wollte einen Roman schreiben und wusste: Ich muss über irgendetwas schreiben, das mich auch wirklich beschäftigt. Dieses Thema gärt seit Jahren in mir, ich beschäftige mich sehr viel mit der Vaterfigur. Vieles im Buch ist biografisch, aber ich wollte die künstlerische Freiheit haben, das Geschehen zu verändern und spannend zu gestalten.

Wie viele Parallelen hat das Buch zu Ihrem Leben?

Die Eckpfeiler sind wahr. Meine Protagonistin Marlene wächst in einer fiktionalen Kleinstadt namens Eisenwald auf, ich komme aus Iserlohn. Ich kenne das Gefühl, warum Marlene anfängt, nach ihrem Vater zu suchen, das Gefühl, das ein abwesender Vater mit einem macht. Die Reisen im Buch habe ich auch selbst gemacht. Aber ich habe viele Sachen weg gelassen, verkürzt oder verändert.

Wie war das mit Ihrem eigenen Vater als Sie klein waren?

Meine Eltern haben sich getrennt, als ich vier Jahre alt war. Er war sehr viel in der Welt unterwegs und einfach nicht anwesend. Er hat sich auch immer sehr lange nicht gemeldet – manchmal Jahre nicht. Es gab auch Phasen, wo wir uns wieder mehr angenähert haben, immer gefolgt von Trotzphasen, wo ich dachte: „Wenn er sich nicht um mich kümmert, ist es mir jetzt auch egal.“

Die Autorin

Nora Gantenbrink wurde 1986 geboren, studierte in Münster und besuchte die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg. Sie arbeitete als Redakteurin bei Spiegel Online, Stern, Zeit und Spiegel. Seit 2013 ist sie Reporterin beim Stern. „Dad“ ist ihr erster Roman.

Ist er denn wenigstens ab und zu mal da gewesen? Und wenn ja, wie war das dann für Sie?

Ab und an tauchte er schon auf. Das war dann doppelt schwer, weil ich dann immer dachte: „Eigentlich bin ich ja sauer, aber Hauptsache, er ist da.“ Ein bisschen so wie in einer toxischen Liebesbeziehung. Jedes Mal, wenn er da war, habe ich gehofft, dass er nun bleiben würde. Und jedes Mal wurde ich enttäuscht.

Im Buch gibt es eine Szene, in der Marlene im Kindergarten eine Laterne basteln soll. Es ist vorgesehen, dass die Väter dabei helfen. Marlenes Vater kommt aber nicht. Ein anderer Junge kommentiert das hämisch und Marlene sticht ihm daraufhin vor Wut und Enttäuschung mit der Prickelnadel ins Bein. Ausgedacht oder echt?

Weitestgehend echt. Das war eine ganz typische Situation. Mein Vater hat immer viel versprochen. Wenn er dann tatsächlich mal aufgetaucht ist, war er größer als alle anderen. Er hat den ganzen Raum eingenommen, wild gestikuliert, alle waren verzaubert. Aber meistens kam er halt erst gar nicht. Eigentlich immer, wenn er es besonders fest versprochen hatte, da zu sein. Und dann war wieder alles zerschlagen.

Wie traurig.

Ich habe mir mein ganzes Leben lang eingeredet, dass es viel schlimmere Schicksale gibt. Ich bin dann Journalistin geworden und habe mich mit den Geschichten der anderen beschäftigt. Aber es gibt Themen, bei denen man sich selbst bloß was vormacht. Ich wollte diese Sehnsucht nach meinem Vater nicht haben, aber sie begleitete mich dennoch mein Leben lang.

Zum Weiterlesen

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Nora Gantenbrink: Dad, Rowohlt Verlag, 231 Seiten, 20,00 Euro

Ebenfalls zum Thema: Ilona Hartmann: Land in Sicht, Blumenbar Verlag, 159 Seiten, 18,00 Euro.Darum geht es: Jana hat ihren Vater nie kennengelernt und weiß nur, dass er Kapitän auf einem Donau-Kreuzfahrtschiff ist. Also bucht sie sich kurzerhand eine Woche auf dem Schiff ein. Ob sie sich zu erkennen geben wird, weiß sie noch nicht.

In welchem Alter waren diese Unzuverlässigkeit und die dauernde Enttäuschung für Sie am schlimmsten?

Das ist eine gute Frage. Gefühlt, würde ich sagen, war es immer schlimm. Ich habe mich immer abgelehnt gefühlt und mich gefragt, ob ich es nicht wert bin, dass er bei mir sein möchte. Ab der Pubertät fand ich es nicht mehr ganz so schlimm, weil man da mehr mit Freunden macht und sich darauf konzentriert erwachsen zu werden. Aber eigentlich hat man sich da auch nach ihm gesehnt. Die Sehnsucht war immer da. Es gab viele Momente, die weh taten. Zum Beispiel, wenn man gesehen hat, wie Freundinnen ganz innige Vater-Tochter-Beziehungen hatten.

Der Vater der Protagonistin infiziert sich auf einer Reise mit HIV und stirbt, als seine Tochter 18 ist. Genau das haben Sie auch erlebt.

Ja. Als er dann endlich da war, war er sehr schwer krank. So gesehen habe ich nur mit meinem Vater Zeit verbracht, als ich noch sehr klein war und kurz bevor er gestorben ist. Dazwischen war er meistens verreist, manchmal wussten meine Mutter, meine Geschwister und ich nicht mal, wohin. Die Aids-Erkrankung war natürlich ein großes Tabu in der Kleinstadt, in der sehr stark darauf geschaut wurde, wie andere Familien funktionieren. Wer betrügt wen? Wer lässt sich scheiden? Alles wurde bewertet. Aids kam in diesem Kosmos nicht vor.

Als Ihr Vater erkrankte, ist er nach Hause zurückgekommen?

Notgedrungen, ja. Als die Infektion bei meinem Vater festgestellt wurde, war sie schon weit fortgeschritten. Damals war klar, dass man daran sterben muss. Durch den Ausbruch und sein geschwächtes Immunsystem, bekam er viele verschiedene Zusatzkrankheiten. Da war es für ihn natürlich nicht mehr so entspannt, durch die Welt zu reisen.

Wie war das für Sie, dass er plötzlich wieder da war, in so einem Zustand und kurz vor dem Tod?

Das war ambivalent. Auf der einen Seite war ich froh über diesen Vater, der nicht mehr weglaufen konnte. Auf der anderen Seite war er da schon sehr stark von seinem Verfall geprägt. Als ich ihm gegenüber saß, habe ich ihm ganz viele Fragen nicht gestellt. Ich habe wenig ausgesprochen und mich nicht getraut zu fragen. Mit seinem Tod ist die Chance verschwunden, diese Dinge zu erfahren.

Welche Dinge hätten Sie gerne noch von Ihrem Vater erfahren?

Ich hätte gerne gewusst, ob er es bereut, Vater geworden zu sein. Und warum er nie da war. Ich hätte auch gerne gewusst, was er auf seinen Reisen gesucht hat oder wie glücklich er da war. Ich hätte gerne gewusst, wie es sich anfühlt Heroin zu nehmen und generell, ob er sich ohne Drogen irgendwann nicht mehr ertragen konnte. Mich hätte auch sein Verhältnis zu seinem eigenen Vater interessiert.

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Warum haben Sie ihn nicht gefragt?

Vielleicht hatte ich doch Angst vor der Antwort. Außerdem war ich in einem Schockzustand. Ich hatte noch nie zuvor einem todkranken Menschen so nah gegenüber gesessen. Er war auf einer Aids-Station in Dortmund, wo dauernd Menschen gestorben sind. Manchmal saß ich stundenlang da und habe zugehört, was er mir erzählt hat. Dann bin ich wieder gefahren und musste das irgendwie verarbeiten. Damit war ich genug beschäftigt. Und dann ist er plötzlich doch sehr schnell gestorben. Die Beerdigung ist an mir vorbei gezogen und dann habe ich gemerkt, dass jetzt etwas zugefallen ist, was nicht mehr geöffnet werden kann. Er wird sich nie bei mir entschuldigen können. Mir nie erklären, warum er sich nicht gekümmert hat. Sein Tod hat in mir nicht nur Trauer ausgelöst, sondern auch so etwas wie Wut, weil ich das Gefühl hatte, dass er sich sogar vor diesen letzten Antworten drückt.

Wenn Sie ihn jetzt noch einmal sehen könnten, was würden Sie machen?

Ich hätte gerne einen Abend, wo ich mich mit meinem Vater in die Kneipe setze und wir uns betrinken, endlich ehrlich sind und uns alles erzählen, alles. Das würde ich mir wünschen.

Mal angenommen, Sie könnten sich noch einmal mit Ihrem Vater in die Kneipe setzen. Kämen da Eigenschaften ans Licht, die Sie an sich selbst wiedererkennen?

Ich glaube, wir sind beide sehnsüchtig und melancholisch. Er hat das nur anders kompensiert. Ich interessiere mich für Menschen und ihre Geschichten. So war mein Vater auch. Ich hätte ihn gerne als Erwachsene erlebt.

Hat Ihnen das Buch dabei geholfen, Ihre eigene Geschichte zu verarbeiten?

Ja. Durch Corona ist die Veröffentlichung nicht so gelaufen wie geplant, Buchmessen, Lesungen und Partys sind ausgefallen. Aber das Buch zu schreiben hat mir dabei geholfen, meinen Vater neu kennenzulernen – und nicht mehr so zu überhöhen. Er war für mich immer ganz groß. Dass ich seine Reisen nachgemacht und Bekannte von ihm getroffen habe, hat ihn für mich wieder irdisch gemacht. In der Realität war er gar nicht so heldenhaft, wie ich es mir immer ausgemalt habe, sondern einfach sehr menschlich. Die wahre Heldin war eigentlich immer meine Mutter. Aber das ist jetzt wieder eine andere Geschichte.