Kinderarmut seit Corona verschärftUrlaub, Platz, Möbel – woran es vor allem mangelt
Gütersloh – Kinderarmut bleibt einer Analyse zufolge mit unverändert hohen Zahlen eine „unbearbeitete Großbaustelle“. Rund 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche wachsen in Armut auf - 21,3 Prozent aller unter 18-Jährigen, wie die Bertelsmann Stiftung am Mittwoch berichtete. „Seit Jahren ist der Kampf gegen Kinderarmut eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen in Deutschland.“ Dennoch gebe es seit 2014 im bundesweiten Durchschnitt wenig Verbesserungen. Mehr als jeder fünfte Heranwachsende sei betroffen. Die Corona-Krise drohe das Problem noch zu verschärfen.
Corona-Pandemie trifft sozialschwache Familien besonders hart
Eltern benachteiligter Kinder und Jugendlicher arbeiteten häufig in Teilzeitarbeit oder als Minijobber und seien in der Pandemie-Zeit von Jobverlusten oder Einkommenseinbußen überdurchschnittlich stark betroffen, heißt es in der Analyse. Wegen der Corona-Auswirkungen bestehe die Gefahr, dass viele arme Kinder „durchs Raster fallen“, warnte der Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, Jörg Dräger. Dies liege auch daran, dass zahlreiche außerhäusliche Unterstützungsangebote staatlicher oder zivilgesellschaftlicher Natur in der Zeit des Lockdowns zumindest zeitweise eingestellt worden seien, erklärte Dräger. Die Stiftung beruft sich unter anderem auf Auswertungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).
Problemverschärfend wirkt demnach auch das in der Zeit des Lockdown eingeführte Homeschooling, also der Unterricht zuhause. Kinder aus armen Verhältnissen verfügten oft nicht über die dafür notwendige technische Ausstattung und hätten vielfach auch keine Rückzugsräume für ungestörtes Lernen, hieß es. So hätten 24 Prozent der Kinder in Haushalten, die Grundsicherung beziehen, keinen Zugang zu einem internetfähigen PC. Die meisten von Armut betroffenen Kinder hätten kaum Aussicht auf Besserung ihrer Situation.
Die Untersuchung der Stiftung legt eine kombinierte Armutsmessung zugrunde. Sie berücksichtigt Kinder aus Familien, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte beträgt. Und es sind Heranwachsende im Grundsicherungsbezug eingerechnet, deren Familien Hartz IV erhalten. Das ungelöste Problem der Kinderarmut habe erhebliche Folgen für Aufwachsen, Wohlbefinden, Bildung und Zukunftschancen, betonte die Stiftung in Gütersloh.
Regionale Unterschiede des Wohlstands
Für zwei Drittel der von Armut betroffenen Kinder sei dieser Zustand dauerhaft, also mindestens fünf Jahre durchgehend oder wiederkehrend. Besonders stark betroffen seien Haushalte von Alleinerziehenden sowie Haushalte mit drei oder mehr Kindern. Regional gibt es demnach Unterschiede. So sei in Ostdeutschland der Anteil der Kinder, die Grundsicherung beziehen, von 22,1 Prozent im Jahr 2014 auf 16,9 Prozent im Jahr 2019 gefallen. In Westdeutschland stagniere die Quote dagegen bei etwa 13 Prozent - trotz bis zur Corona-Krise guter wirtschaftlicher Entwicklung. In einigen Kommunen in Deutschland seien bis zu 40 Prozent der Kinder auf Grundsicherung angewiesen, in anderen dagegen nur zwei Prozent.
Vor allem bei Freizeitgestaltung und sozialer Teilhabe bestehe eine starke Unterversorgung. Über zwei Drittel der armen Kinder können laut Analyse mit ihrer Familie nicht einmal eine Woche im Jahr in Urlaub fahren. Bei vielen reiche das Geld nicht für einmal im Monat Kino, Konzert oder Essengehen. Klassenfahrten, Schüleraustausch oder Einladungen nach Hause seien schwierig.
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Abgenutzte Möbel werden bei 82 Prozent der betroffenen Kinder nicht ersetzt – zumeist aus finanziellen Gründen. Fast die Hälfte lebt in Wohnungen, in denen es der Studie zufolge nicht ausreichend Zimmer für alle Familienmitglieder gibt.
Politik setze sich zu wenig gegen Kinderarmut ein
„Kinderarmut in unserem reichen Land ist ein unfassbarer Skandal, weil sie Lebenschancen der Kleinsten verbaut“, kritisierte Linke-Bundestagsfraktionschef Dietmar Bartsch. Es sei ein schweres Versäumnis von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und den Bundesregierungen der vergangenen Jahre, hier keine entscheidende Verbesserung erreicht zu haben.„Kinderarmut bleibt ein ungelöstes strukturelles Problem mit erheblichen Folgen für das Aufwachsen, das Wohlbefinden, die Bildung und die Zukunftschancen der Kinder“, erklärten die Experten.
Dräger kritisierte in diesem Zusammenhang insgesamt zu geringe Anstrengungen der Politik, um Kinderarmut zu verringern. „Die Politik tut zu wenig, um Kindern Armut zu ersparen“, erklärte der Stiftungs-Vorstand. Er forderte die Regierungen von Bund und Ländern deswegen zum Handeln auf: „Die Vermeidung von Kinderarmut muss gerade in der Corona-Krise politische Priorität bekommen.“
Dräger sprach sich dabei für neue sozial- und familienpolitische Konzepte aus. Er verwies auf Vorschläge für ein Teilhabegeld oder eine Kindergrundsicherung. Zudem müssten Strukturen für eine konsequente Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ausgebaut werden. Besonders in der Corona-Krise habe sich auch gezeigt, dass die Wünsche und Bedarfe von Kindern und Jugendlichen von der Politik nicht angemessen erfasst würden. (afp/dpa/rha/pg)