Geschlechterrollen in der SteinzeitDer Mann jagt, die Frau hütet die Höhle? Falsch!
- Denken wir an die Steinzeit, denken wir an Männer, die Mammuts jagen und Frauen, die die Höhle hüten.
- Diese Vorstellung ist ein Klischée und in der Wissenschaft schon längst überholt.
- Die Archäologin Brigitte Röder erklärt im Interview, woher unsere falschen Vorstellungen von der Urzeit rühren. Und wie es stattdessen gewesen sein könnte.
Basel – Frau Röder, warum glauben wir, dass es seit der Steinzeit feste Rollenverteilungen gibt: Die Frau, das Heimchen am Herd, der Mann, der Ernährer und Beschützer?
Brigitte Röder: Diese Vorstellung basiert nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern ist ein Produkt des 18. und 19. Jahrhunderts. Als sich seiner Zeit die bürgerliche Gesellschaft formierte, mussten zentrale soziale Institutionen neu definiert werden, nämlich das Geschlechter- und das Familienmodell. Beide schrieben fest, dass Mann und Frau in ihrem Wesen grundverschieden sind, woraus sich unterschiedliche Rollen in der Paarbeziehung, der Familie, der Gesellschaft und die Hierarchie der Geschlechter ableiten ließen: Der Mann, Ernährer und Oberhaupt der Familie. Die Frau, Ehefrau, Mutter und Hausfrau.
Dieses neue Geschlechtermodell musste begründet und legitimiert werden – mit dem Argument: Das ist allgemein menschlich, naturgegeben und so alt wie die Menschheit. Dieses neue, bürgerliche Geschlechter- und Familienmodell war aber gar nicht für alle lebbar. Vor allem in bäuerlichen Milieus und der Arbeiterschaft konnten sich die Frauen nicht auf Haushalt und Kinder beschränken.
Trotzdem gilt dieses bürgerliche Leitbild bis heute als ursprünglich, biologisch vorgegeben und wird also auf die Urgeschichte projiziert?
Die Urgeschichtsforschung hat sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Wissenschaft etabliert – ihre Entstehung ist also im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft zu sehen. Und da Wissenschaften immer von ihrem zeitgeschichtlichen Kontext beeinflusst werden, ist es nicht erstaunlich, dass die Urgeschichte als Projektionsfläche für das diente, was man damals für naturgegeben hielt: heterosexuelle monogame Paare, die eine Familie gründeten, die wiederum mit ihren spezifischen Geschlechterrollen die Keimzelle der Gesellschaft bildete.
Davon zeugen viele bildliche Darstellungen von Urmenschen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie zeigen Familien in oder vor einer Höhle, stets mit derselben Arbeitsteilung: Der Mann kommt von der erfolgreichen Jagd zurück oder beschützt seine Familie, die Frau sitzt an der Feuerstelle mit einem Kind im Arm. Dieses, im Bürgertum entstandene Geschlechtermodell, wurde mit der Zeit zum gesamtgesellschaftlichen Leitbild.
Und warum behaupten Sie, dass es nicht so war?
Es wäre ja absurd anzunehmen, dass es in drei Millionen Jahren Menschheitsgeschichte immer die gleichen, festen Rollen und damit keinerlei Veränderungen gegeben hätte. Geschlechterverhältnisse und auch die Vorstellung von Geschlecht an sich sind historisch höchst wandelbar. Das erleben wir ja gerade jetzt: Mit dem verstärkten Sichtbarwerden von Menschen, die sich nicht als männlich oder weiblich identifizieren, zeigt sich, dass das binäre Geschlechterkonzept nicht adäquat ist.
Ausstellung: Ich Mann. Du Frau
Brigitte Röder war Mitkuratorin der Wanderausstellung "Ich Mann. Du Frau. Feste Rollen seit Urzeiten?" im Auftrag des Archäologischen Museums Colombischlössle. Sie ist virtuell anzuschauen und ist die erste Ausstellung, die sich mit der Frage beschäftigt, ob in der Urzeit tatsächlich Männer ausschließlich Jäger und Frauen Sammlerinnen waren, und was die Archäologie dazu sagt. Sie hat dazu beigetragen, dass die Ergebnisse der archäologischen Geschlechterforschung Eingang in die öffentliche Gender-Debatte findet.
Sie sagen, nicht nur die Literatur, die Medien und Filme wie Familie Feuerstein, sondern selbst die archäologische Forschung habe dazu beigetragen, dass die angenommenen Geschlechterrollen der Urzeit immer wieder bestätigt wurden.
Die Geschlechterverhältnisse waren lange Zeit kein Forschungsthema in der Prähistorischen Archäologie. Man ging stattdessen selbstverständlich davon aus, diese schon zu kennen. Die bürgerlichen Konzepte schienen bis in jüngste Zeit so elementar mit dem Menschen und dessen „Ur-Zustand“ verwoben zu sein, dass sie lange Zeit die Forschung blockiert und einen objektiven Blick auf die Vergangenheit verhindert haben.
Die archäologische Geschlechterforschung, die Sie an der Uni Basel lehren, stellt diese Vorstellung von der Frühzeit nun gewaltig auf den Kopf. Seit wann hinterfragt sie die angeblich ursprüngliche Rollenverteilung?
Im Vergleich zu den Geschichts- und Sozialwissenschaften entwickelte sich dieses Forschungsfeld in der deutschsprachigen Archäologie erst zu Beginn der neunziger Jahre. In meinem Studium in den 1980er Jahren war die Geschlechtergeschichte kein Thema. Dazu kann die urgeschichtliche Forschung nichts sagen, da es keine schriftlichen Quellen gibt, hieß es. Gleichzeitig wurden aber permanent Aussagen über Geschlechterverhältnisse gemacht und kein Zweifel daran gelassen, dass alle urgeschichtlichen Gesellschaften patriarchal gewesen seien. In den letzten Jahren wächst im Fach das Bewusstsein dafür, dass solche Ansichten nicht auf Forschung, sondern auf Projektionen beruhen.
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Nun ist der Ausstieg aus der Projektionsschlaufe angesagt: Statt davon auszugehen, dass man die Geschlechter- und Familienverhältnisse in der Urgeschichte kennt, müssen sie im Einzelfall untersucht werden – ergebnisoffen und ohne das bürgerliche Geschlechtermodell als Standard im Kopf. So lassen sich große Unterschiede erkennen, die auf eine enorme Vielfalt hindeuten.
Wie müssen wir uns also das (Zusammen-)Leben der Steinzeit-Menschen vorstellen?
Das eine Leben in der Steinzeit gab es nicht, sie dauerte schließlich rund drei Millionen Jahre. Wir unterscheiden drei Epochen: Die Alt-, Mittel- und Jungsteinzeit. In der Altsteinzeit waren die Menschen in kleinen Gruppen unterwegs, haben gejagt, gesammelt und gefischt. Mit der Jungsteinzeit veränderten sich die Lebensweisen drastisch. Die Menschen waren nun weitgehend sesshaft, betrieben Ackerbau und Tierhaltung und lebten in viel größeren Gruppen zusammen. Das brachte neue soziale Herausforderungen und völlig andere Lebensformen, etwa in Städten, mit sich. Es ist also von einer Vielzahl unterschiedlicher Lebensweisen und damit auch verschiedenster Geschlechterrollen auszugehen.
Gibt es archäologische Funde, die beweisen, wie die Geschlechterrollen in der Urgeschichte waren?
Mit den Beweisen ist es in der Archäologie eine schwierige Sache, es gibt ja keine Schriftquellen aus dieser Zeit. Einem Pfeil sieht man nicht an, wer mit ihm gejagt oder Krieg geführt hat, einem Kochtopf nicht, wer darin gekocht hat. Die klarsten Hinweise darauf, womit Männer und Frauen überwiegend beschäftigt waren, geben ihre sterblichen Überreste. Wenn ein Mensch lange eine bestimmte Tätigkeit ausführt, hinterlässt das Spuren an seinem Skelett. Und da gibt es immer wieder Überraschungen.
Von Hallstatt in Österreich kennen wir ein Salzbergwerk und einen zeitgleichen Friedhof aus der Eisenzeit. Die Veränderungen an den Knochen der dort Bestatteten zeigen, dass Männer wie Frauen, selbst Kinder, in den Bergbau involviert waren. Die Männer haben das Salz mit Bronzepickeln aus dem Berg gehauen, die Frauen haben es nach oben getragen.
Auch überrascht hat das Grab eines Mannes in Salzmünde, das Webgewichte enthielt, die in der Textilherstellung verwendet werden und deshalb als weibliche Beigabe gelten. An seinem Skelett waren aber Spuren zu sehen, die entstehen, wenn jemand lange Zeit in der tiefen Hocke verbringt – eine Haltung, die bestimmte Webstühle erzwingen. Aber selbst wenn man eine Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern nachweisen kann, sagt das noch nichts darüber aus, wie diese damals bewertet war. Ich denke da an die heutige Abwertung der Hausarbeit, die bei uns nach wie vor weiblich konnotiert ist.
Was ist die für Sie wichtigste Erkenntnis der archäologischen Geschlechterforschung? Und was können wir daraus lernen?
Die Idee, dass es seit Urzeiten feste Rollen nach westlich-bürgerlichem Muster gab, ist mit Sicherheit falsch. Dazu zwei Beispiele, die in den Medien vor einiger Zeit Furore machten: die „Kriegerin von Birka“ aus der Wikingerzeit, bei der es sich vielleicht um eine hochrangige Heerführerin handelte, und das jungsteinzeitliche Grab einer Frau aus Peru, die mit Jagdwaffen bestattet wurde. Der Krieg und die Jagd waren also auch in der Urgeschichte nicht nur Männersache.
Eine weitere Erkenntnis ist, dass bei uns heute das Geschlecht eine wahnsinnig wichtige Rolle für die persönliche Identität und in der Gesellschaft spielt. Für mich war es ein Augenöffner, dass es in der Urgeschichte Gesellschaften gab, bei denen das möglicherweise nicht so und das Geschlecht kein sozialer Platzanweiser war. Das ist doch ein interessantes Gedankenexperiment: Wenn Geschlechter eine geringere Rolle spielen würden, und der Mensch einfach Mensch sein dürfte.