Rebecca Illerhaus und Hassan Namek stehen mit Kindern und Beruf mitten im Leben – und holen gerade auch noch ihr Abi nach. Was treibt sie an?
Zurück in die SchuleZwei Kölner erzählen, warum sie als Erwachsene ihr Abi nachholen
Im Deutsch-LK wird an diesem Montagmorgen um neun bereits über Moral diskutiert. Was hat der Philosoph Immanuel Kant mit seinen Thesen sagen wollen? Die Schülerinnen und Schüler sind völlig konzentriert bei der Sache. Auf den ersten Blick eine auffallend motivierte, aber sonst scheinbar normale Schulklasse. Doch etwas ist anders. Denn hier im Kurs AV4 sitzen keine Jugendlichen im Unterricht, sondern Erwachsene. Und sie haben alle ein gemeinsames Ziel: ihr Abi nachzuholen.
Eine von ihnen ist Rebecca Illerhaus. „Ich habe immer bereut, das Abi damals nicht gemacht zu haben“, sagt die 46-Jährige aus Köln-Ossendorf. Stattdessen habe sie sich nach der mittleren Reife zur Schauwerbegestalterin ausbilden lassen. „Ich habe viele Jahre sehr gern in diesem Beruf gearbeitet, doch die Abi-Idee hat mich nicht losgelassen.“ Als vierfache Mutter seien aber klassische Angebote des zweiten Bildungswegs, die ganztags oder abends stattfinden, für sie nicht infrage gekommen. „Als ich erfuhr, dass es AbiVor gibt, habe ich mich total gefreut.“
„AbiVor“ bedeutet morgens Schule, danach Arbeit oder Kinder
„AbiVor“ – das heißt schlicht „Abi am Vormittag“. Die Schulstunden finden nur morgens statt, und am Ende des dreijährigen Programms steht die Allgemeine Hochschulreife. „Als AbiVor 1995 startete, richtete sich das Angebot speziell an junge Mütter, nach dem Motto ‚Lernen, wenn die Kinder lernen‘“, sagt Koordinatorin Annegret Flach. „Heute nehmen aber auch viele berufstätige Männer und Frauen ohne Kinder teil.“ Bis zum vierten Semester ist AbiVor ein berufsbegleitendes Angebot, die Studierenden sind also morgens im Unterricht und gehen sonst einer Arbeit nach oder betreuen Kinder. In höheren Semestern ist das keine Pflicht mehr und sie sind auch Bafög berechtigt.
„Das Spannende ist, dass in den AbiVor-Klassen Menschen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft zusammen lernen“, sagt Annegret Flach. Die Altersspanne liege bei 18 bis rund 60 Jahren. „Und jeder hat seine ganz eigene Geschichte, warum er hier ist.“
So wie Hassan Namek aus Köln-Deutz. „Ich hatte mein Abitur im Irak gemacht und dort Journalismus studiert“, erzählt der 34-jährige zweifache Vater, „aus politischen Gründen und wegen meiner Tätigkeit als Reporter konnte ich dort aber nicht bleiben und bin 2009 nach Deutschland geflohen.“ Weil sein irakischer Schulabschluss hier nicht anerkannt wurde, habe er zunächst viele Jahre in verschiedenen Berufen gearbeitet. „Das empfand ich aber als perspektivlos, ich wollte mehr machen.“ Er holte den Realschulabschluss nach und ist nun im ersten AbiVor-Semester.
AbiVor ist ein gemeinsames Projekt des Abendgymnasiums Köln und des Köln-Kollegs. Teilnahmevoraussetzung ist ein Mindestalter von 18 Jahren und der Nachweis über zwei Jahre Berufstätigkeit – dazu zählen unter anderem die Erziehung oder Pflege von Angehörigen, Vollzeitpraktika oder das FSJ. Ob ein Vorkurs nötig ist und in welchem Semester die Studierenden beginnen, hängt von deren Vorkenntnissen ab. AbiVor ist gebührenfrei.
Engagierte Lehrkräfte fördern die Lust am Lernen
Anders als in regulären Abi-Stufen sind die Leistungskurse Deutsch und Bio festgelegt, dazu kommen die Grundkurse Englisch, Mathematik, Geschichte und Soziologie. Die Zahl der unterrichteten Fächer ist abgespeckt, das Niveau aber hoch. „Besonders die Klausuren-Phasen sind anstrengend“, erzählt Rebecca Illerhaus. „Aber ich lerne heute viel bewusster und habe Lust, mir Dinge selbst zu erarbeiten und geistig gefordert zu werden.“ Das bestätigt auch Hassan Namek. „In meiner Schulzeit hat Lernen keinen Spaß gemacht, aber jetzt mag ich Dinge, für die man Motivation braucht“, sagt er, „trotz Sprachbarriere liebe ich die Literaturanalysen im Fach Deutsch.“ Auch neue Fähigkeiten kommen hier bisweilen an die Oberfläche. „Ich hatte so Angst, Mathe nicht zu schaffen“, sagt Illerhaus, „doch hier habe ich doch tatsächlich meine Liebe dazu entdeckt.“
Die Mehrfachbelastung aus Schule, Beruf und Familie ist durchaus eine Herausforderung. Auch deshalb gibt es bei AbiVor die Möglichkeit, sich beurlauben zu lassen. „Unsere Studierenden sind oft in komplexen Lebensphasen“, erzählt Annegret Flach, „der älteste Schüler ist 61 und gerade beurlaubt, um seine eigenen Eltern zu pflegen.“ Statt Druck auszuüben, gehe es dann darum, für jeden Schüler einen individuellen Weg zu finden, wie er oder sie das schaffen kann. „Mir gefällt, dass die Lehrkräfte alles tun, damit man auf der Schiene bleibt“, sagt Namek. „Sie sind wahnsinnig engagiert und setzen sich für die Schüler ein“, ergänzt Illerhaus, „früher war ich den Lehrern ziemlich egal, aber hier glauben sie an mich.“
Alter, Herkunft, Religion: Hier lernen verschiedene Schüler gemeinsam
Auch der Klassenverband, der bis zum Abi bestehen bleibt, spielt eine große Rolle. „Die Studierenden unterstützen sich gegenseitig“, sagt Annegret Flach. „Ich habe schnell Freunde gefunden, alle sind sehr hilfsbereit“, berichtet Hassan Namek. Auch außerhalb der Schule lernten sie zusammen. „Wir haben eine tolle, spannende Klassengemeinschaft“, sagt auch Rebecca Illerhaus, „viele meiner Mitstudierenden sind in anderen Ländern aufgewachsen und berichten davon auch im Unterricht.“ Man bekomme einen anderen Blick auf die Welt. „Die Klassen wachsen über alle Unterschiede hinaus zusammen“, sagt Flach, „es ist nicht nur eine schulische, sondern auch eine menschliche Ausbildung.“ Und habe zudem einen riesigen integrativen Wert.
Der Zusammenhalt wird auch durch gemeinsame Ausflüge, Theaterbesuche und Klassenfahrten gestärkt. „Vor kurzem haben wir eine Exkursion nach Belgien unternommen, das hat Spaß gemacht“, erzählt Hassan Namek. „Wir waren mit dem Französisch-Kurs ein paar Tage in Paris, das war unheimlich schön“, sagt Rebecca Illerhaus. Auch so etwas gehört eben zum Leben von Abiturienten.
Eltern wollen den Kindern zeigen, dass Lernen wichtig ist
Und was sagen die Kinder dazu, dass ihre Eltern selbst wieder die Schulbank drücken? „Alle unterstützen mich sehr“, sagt Rebecca Illerhaus, „mein 15-jähriger Sohn und ich lernen oft nebeneinander auf Klausuren.“ Sie hätten jetzt noch mehr Verständnis füreinander. „Wenn meine Kids sich auf die Ferien freuen, dann sage ich: ‚Yeah, ich auch!‘“ Hassan Nameks Sohn findet es besonders spannend, wenn sein Papa Hausaufgaben macht. „Der Kleine ist Erstklässler und schreibt oder malt dann oft etwas neben mir“, erzählt er lachend. „Es ist schön, dass er sieht, wie wichtig Bildung ist. Ich bin froh, dass meine Kinder hier eine andere Zukunft haben.“ Viele Studierende seien wegen ihrer Kinder besonders motiviert, bestätigt Lehrerin Flach. „Sie wollen ihnen bei den Schulaufgaben helfen können und ein Rollenvorbild sein.“
Angetrieben werden die AbiVor-Studierenden aber vor allem durch die Hoffnung, nach dem Abi einen guten Beruf zu finden. Viele haben auch schon konkrete Ziele im Auge. „Jura oder Journalismus könnte ich mir vorstellen“, sagt Hassan Namek. „Mein großer Traum ist es, Psychologie oder Neurowissenschaften zu studieren“, erzählt Rebecca Illerhaus. „Ich möchte ein richtig gutes Abi machen und mir das auch selbst beweisen.“