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Zwischenfall mit DrohnenWas über den möglichen Anschlag auf Putin bekannt ist und was nicht

Lesezeit 6 Minuten
03.05.2023, Russland, Moskau: Blick auf die Kuppel des Senatspalastes im Moskauer Kreml. Der ukrainische Präsident Selenskyj hat Russland die Fabrikation eines angeblichen Drohnenangriffs auf den Kreml vorgeworfen. Foto: Uncredited/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Die Kuppel des Senatspalastes im Moskauer Kreml nach dem Drohnenangriff. Schäden sind trotz des Brandes in der Nacht zum Mittwoch nicht zu erkennen.

Nach einem Zwischenfall mit zwei Drohnen auf dem Gelände des Kreml macht die russische Führung der Ukraine schwere Vorwürfe. Was ist dran? Wir geben einen Überblick.

Ein Anschlag auf das Leben des russischen Präsidenten Wladimir Putin eine Woche vor der geplanten Parade am 9. Mai, dem Jahrestag des Sieges über Hitlers Wehrmacht? Nach einem Zwischenfall mit zwei Drohnen auf dem Gelände des Kreml macht die russische Führung der Ukraine schwere Vorwürfe, russische Militärblogger schäumen. Aber ist überhaupt klar, was passiert ist?

Was war das Ziel des Drohnenangriffs?

Am frühen Mittwochmorgen hat eine Drohne unbekannter Herkunft ein Kuppeldach im Kreml getroffen, eine zweite ist dicht über dem Dach explodiert. Die Kuppel gehört zum im späten 18. Jahrhundert errichteten Senatspalast, dem Sitz der russischen Präsidialverwaltung. Der russische Präsident Wladimir Putin hält sich allerdings nur selten im Kreml auf, er übernachtet dort in aller Regel nicht (und ganz sicher nicht unterm Dach) und hat das nach offiziellen russischen Angaben auch in der Nacht zum Mittwoch nicht getan.

Putins Gewohnheiten dürften ukrainischen Militärs und Geheimdienstlern bestens bekannt sein. Sollten sie wirklich hinter dem Angriff stehen, wird ihnen klar gewesen sein, dass sie Putin selbst nicht treffen würden. Die Drohnen waren auch zu klein, um ernsthaften Schaden anzurichten.

Wie war der konkrete Ablauf?

Der Twitter-Dienst GeoConfirmed hat die insgesamt fünf Videos ausgewertet, die die beiden Drohnenangriffe dokumentieren. Vier davon stammen aus vom russischen Staat kontrollierten Überwachungskameras, sind also offensichtlich mit staatlicher Billigung an die Öffentlichkeit gelangt. Das fünfte ist ein Handy-Video. Die erste Drohne traf die Kuppel um 2:27 Uhr Ortszeit von Westen her, die zweite flog aus dem Osten an und explodierte um 2:43 Uhr. Der Treffer der ersten Drohne löste einen Brand auf der Oberfläche der Kuppel aus. Eines der Videos zeigt, wie zwei Personen das Kuppeldach besteigen, während sich eine Drohne nähert. Das wurde in ersten Twitter-Reaktionen als Beleg für eine russische Inszenierung gewertet. Der Ablauf ist aber durchaus plausibel: Die erste Drohne hatte die Kuppel zum Zeitpunkt der Aufnahme bereits getroffen, auch wenn der Brandherd auf dem fraglichen Video nicht sichtbar ist, denn er liegt auf der der Kamera abgewandten Seite der Kuppel. Die beiden Personen waren also alarmiert. Die in ihrer Anwesenheit anfliegende Drohne ist Nummer zwei, die dann über der Kuppel explodiert.

Was sagt die ukrainische Seite?

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat eine Beteiligung der Ukraine an dem Angriff scharf dementiert. Doppelbödig äußert sich sein Berater Mykhailo Podolyak. Zwar erklärte auch der, die Ukraine visiere nur militärische Ziele an, und der Angriff sei „von russischen Partisanen aus der Region Moskau“ gestartet worden. Er merkte aber an, Drohnen dieser Art seien schließlich überall zu kaufen. Dieser Satz hat einen Hintersinn: Podolyak zitierte damit indirekt Putin höchstselbst. Der hatte angesichts der Angriffe auf Krim und Donbass 2014 die Frage, ob es sich bei den Kämpfern um russische Militärs handele, mit dem denkwürdigen Satz beantwortet: „Uniformen kann man doch überall kaufen.“ Deutete Podolyak damit also doch eine ukrainische Beteiligung an? Oder wollte er nur russische Nationalisten verunsichern? Schwer zu sagen.

Wäre ein ukrainischer Angriff möglich?

So freizügig die russische Seite mit Videos umgeht, so sparsam ist sie mit anderen Informationen – vor allem darüber, was für Drohnen denn eingesetzt worden sein sollen. Die Ukraine verfügt über selbst entwickelte Drohnen, mit denen sie Ziele tief in Russland treffen kann. So gab es im März Drohnenangriffe auf die 120 Kilometer von Moskau entfernte Stadt Kolomna. Ziel könnte ein Raketenwerk gewesen sein, auch wenn eine Drohne schließlich in einer Zementfabrik einschlug. Auch im April stürzte eine ukrainische Drohne nahe Moskau ab.

Aber abgesehen von der Demütigung Putins – worin könnte der militärische Nutzen eines so klein dimensionierten Angriffs auf den Kreml liegen? Die US-Analystin und frühere Navy-Pilotin Brynn Tannehill meint: Wenn die Ukraine symbolträchtige Ziele bei Moskau angreift, dann zwingt sie Russland, immer mehr Ressourcen ihrer Luftabwehr dort zu konzentrieren.

Systeme mittlerer Reichweite (S-300 und S-400) besitzt Russland zwar tausendfach, die zur Drohnenabwehr auf kurze Distanz geeigneten hochmodernen Pantsir-Systeme aber sind knapp. Nach Angaben des Londoner Instituts für Strategische Studien hatte Russland Ende 2021, also vor dem Überfall auf die Ukraine, nur 116 davon. Mindestens zwölf wurden nach Zählung des Blogs Oryx im Krieg zerstört, zwei weite von der Ukraine erbeutet. Und laut GeoConfirmed hat Russland sechs dieser raren Systeme in und um Moskau zusammengezogen.

Deren Schutz fehlt für militärisch wichtige Infrastruktur andernorts. Welche Ziele für die Ukraine derzeit militärisch besonders interessant sind, ist unübersehbar: Seit dem Wochenende gab es drei erfolgreiche Drohnenangriffe auf Tanklager, erst auf der Krim, dann zweimal in Südrussland. Getroffen werden soll die Spritversorgung der russischen Armee.

War es ein Angriff unter falscher Flagge?

So nützlich es für Kiew sein mag, die russische Luftabwehr unter Stress zu setzen – auch Brynn Tannehill hält es mittlerweile für unwahrscheinlich, dass der Kreml-Angriff tatsächlich von der Ukraine aus geführt wurde. Sie sieht zwei Alternativen: einen Angriff russischer Partisanen oder eben eine von Moskau selbst inszenierte Operation unter falscher Flagge. Das Institute for the Study auf War (ISW) setzt auf diese zweite Option: „Wahrscheinlich hat Russland den Angriff vorgetäuscht, um den Krieg dem heimischen Publikum nahezubringen und Bedingungen für eine weitergehende soziale Mobilisierung zu setzen“. Wie hätten die Drohnen angesichts der Pantsir-Systeme sonst durchkommen sollen? Und vor allem: Wieso konnte der Kreml so schnell und koordiniert öffentlich reagieren? Das sei bei echten, für Moskau unvorhersehbaren Angriffen immer anders gewesen.

Wie sind die Konsequenzen für die Propaganda?

Aber kann der Kreml die Erwartungen überhaupt erfüllen, die er mit seinem Narrativ vom Anschlag auf Putin weckt? Schon ruft Ex-Präsident Dmitri Medwedew zur Tötung von Selenskyj auf, Blogger phantasieren von Atomschlägen. Alles unrealistisch. Vor welchen Herausforderungen die russische Propaganda in Wirklichkeit steht, hat das Exilblatt „Meduza“ geschildert: Demnach hat die russische Regierung inzwischen eine Handreichung für Medien herausgegeben, wie sie mit einer erfolgreichen ukrainischen Offensive umzugehen hätten. Gehört der angebliche „Anschlag auf Putin“ zu dieser PR-Strategie, auch eine mögliche Niederlage noch als Sieg gegen die mächtige westliche Feinde zu verkaufen?

Diese Frage diskutiert das ISW nicht. Hinzu kommt, dass ein Drohnenangriff aufs Herz des Kreml die russische Luftabwehr bloßstellt. Wer immer der Urheber war, er wird diese Blamage einkalkuliert haben. Chef der russischen Luft- und wohlgemerkt auch Weltraumstreitkräfte ist nach wie vor Sergej Surowikin, der vorübergehende Oberkommandierende des Ukraine-Einsatzes. Surowikin unterstützt den Wagner-Söldnerführers Jewgeni Prigoschin, der wiederum das Verteidigungsministerium und den Generalstab ständig öffentlich herausfordert. Das ist nur eine der vielen Spaltungen im russischen Militär- und Sicherheitsapparat. Neben Wagner sind weitere Söldnerfirmen aktiv, auch eine im Besitz des Staatskonzerns Gazprom. Der Militärgeheimdienst, der eigene bewaffnete Truppen unterhält, hält wiederum Prigoschins Privatarmee (zu Recht) für eine Sicherheitsgefahr.

Wenn es also ein fingierter Angriff war, wer wollte wem etwas auswischen? Oder waren am Ende doch tatsächlich die von Podolyak ins Spiel gebrachten regimefeindlichen Partisanen Urheber der Aktion? Wären sie im Stande, hochentwickelte Luftabwehrsysteme gleich aus zwei Richtungen zu überlisten, während in Moskau seit Ende April wegen der Vorbereitungen auf den 9. Mai ein striktes Flugverbot herrscht?

Das vorläufige Fazit kann nur lauten: Widerspruchsfrei ist keine der bisher angebotenen Erklärungen. Und wenn Moskau meinte, mit dem Narrativ vom Anschlag ein Problem lösen zu können, dann haben sich Putins Leute damit neue Probleme eingehandelt.