Das Turnier in Katar hat nicht nur die Gastgeber, sondern die ganze Region selbstbewusster gemacht. Trotz aller Kritik des Westens wird die WM zu einem durchschlagenden Erfolg.
WM 2022 in KatarWie die Weltmeisterschaft auf die arabische Welt nachwirkt
Autokorsos in Jordanien, feiernde Fans in Tunis und Kairo, Glückwünsche von Politikern aus der ganzen Region: Die Überraschungssiege arabischer Mannschaften bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar lassen den Nahen Osten seine vielen Konflikte und internen Streitereien zumindest vorübergehend vergessen. Experten sehen ein neues Selbstbewusstsein in der Region, das sich in Zukunft auch in den politischen Beziehungen zum Westen zeigen dürfte.
In Europa war das Turnier in Katar wegen der Ausbeutung von Arbeitern und der Strafverfolgung für Homosexuelle im Gastland höchst umstritten – doch im Nahen Osten wurde die erste WM in einem arabischen Land zu einem durchschlagenden Erfolg. Spektakuläre Erfolge arabischer Mannschaften gegen Fußball-Giganten wie Portugal, Argentinien und Spanien schufen in den vergangenen Wochen vom Persischen Golf bis zur marokkanischen Atlantikküste ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl. Westliche Nationen erschienen als arrogant und schlechte Verlierer.
Marokko stieg zum Liebling aller Araber auf. „Der Erfolg der marokkanischen Nationalmannschaft hat sicherlich das Gefühl der arabischen Einheit verstärkt und lenkt von regionalen Zwistigkeiten und Rivalitäten ab“, meint Sebastian Sons, Experte für die Golf-Region bei der Bonner Denkfabrik Carpo. „Der sportliche Erfolg Marokkos dient somit als kurzfristig einigende Klammer, stärkt das pan-arabische Selbstbewusstsein und wird als nationalistisches Symbol gegen das ehemals kolonialistische Europa instrumentalisiert“, sagte Sons unserer Redaktion.
Palästinensische Flagge als Symbol der neuen Einheit
Zum Symbol der neuen arabischen Einheit wurde die Flagge eines Landes, das überhaupt nicht in Katar vertreten war: die Fahne Palästinas. Marokkanische Fußballer schwenkten sie nach ihrem historischen Einzug ins Viertelfinale im Spiel gegen Spanien. Auch andere arabische Mannschaften hatten bei ihren Auftritten die Fahne dabei. Fans in den Stadien von Katar trugen T-Shirts, die mit der palästinensischen Flagge bedruckt waren.
Nicht nur die Unterstützung für die Palästinenser im Konflikt mit Israel einte die Araber bei der WM. Konsens herrschte auch in der Haltung zu den Beschwerden der Europäer: Westliche Kritik werde „in der arabischen Welt als Doppelmoral abgetan“, sagte Kristof Kleemann, Libanon-Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung, unserer Redaktion. „Auf der einen Seite werden Menschenrechte und Arbeitsbedingungen kritisiert, auf der anderen Seite ist der Westen gern bereit, neue Gasabkommen abzuschließen.“
Spott gegen die deutsche Mannschaft
Die deutschen Spieler wurden in Katar wegen ihres Mannschaftsfotos mit bedeckten Mündern verspottet. Arabische Fans hielten nach dem Ausscheiden der Deutschen im Spiel gegen Costa Rica auf den Rängen Fotos von Ex-Nationalspieler Mesut Özil hoch. Özil hatte seinen Rücktritt aus der deutschen Mannschaft mit dem Satz begründet, bei Erfolgen werde er als Deutscher gesehen, bei Niederlagen aber als Ausländer.
„Die Kritik des Westens an Katar hat die arabische Solidarität befeuert“, hat Kristof Kleemann beobachtet. „Das ist besonders bemerkenswert, da Katar noch vor ein paar Jahren von seinen arabischen Nachbarstaaten boykottiert wurde.“ Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten und Bahrain hatten 2017 alle Beziehungen zu Katar abgebrochen und das kleine Emirat isoliert. Die Blockade endete erst im vorigen Jahr.
Harmonie zwischen saudischem Prinz und katarischem Emir
Nun zeigten die Golfstaaten bei der WM, dass sie den Streit beendet haben und der Außenwelt gegenüber mit neuer Einheit auftreten. „Bei der Eröffnungsfeier saß der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman mit dem katarischen Schal im Stadion“, sagt Kleemann. Katars Emir Tamim bin Hamid al-Thani revanchierte sich, indem er sich nach dem Sieg Saudi-Arabiens über Argentinien im Stadion freudestrahlend die saudische Fahne um die Schultern legte.
Nach Überwindung ihres internen Krachs stehen die Golfstaaten stärker da als je zuvor. Das Turnier fand zu einer Zeit statt, in der europäische Großmächte wie Deutschland wegen des Ukraine-Krieges dringend neue Energie-Lieferanten suchen. Saudi-Arabien als größter Öl-Exporteur der Welt und Katar als größter Lieferant von Flüssiggas werden von westlichen Staaten umworben, wie es vor dem Boykott gegen Russland nicht vorstellbar gewesen wäre. Trotz Kritik aus den USA und Europa arbeiten sie mit Moskau in der Gruppe Opec Plus zusammen, in der sich führende Ölproduzenten zusammengetan haben.
Die WM habe die neuen Machtverhältnisse in der Region offen zu Tage treten lassen, bilanziert Kleemann: „Durch hohe Ölpreise und wirtschaftliche Reformen können die Golfstaaten vor Kraft kaum laufen.“ Ihr neues Verhältnis zum Westen hatten sie bereits im Oktober demonstriert, als sie die Ölförderung drosselten, um die Preise zu stützen, obwohl Europa und die USA Preissenkungen forderten. Von der WM gehe nun ein neues Signal des Selbstbewusstseins aus, sagt Kleemann: „Konstruktive Beziehungen zum Westen sind willkommen, nur nicht mehr unter allen Bedingungen.“