Das Dorf Upahl in Mecklenburg-Vorpommern ist zum Symbol einer Widerstandsbewegung geworden, deren Wirken Folgen für die Migrationsdebatte in ganz Deutschland haben könnte.
„Wir leisten Widerstand“Wie sich ein Dorf gegen die Unterbringung von Asylbewerbern wehrt
Das Wasser steht auf der zweifach umzäunten Fläche. Der Wind kräuselt die Pfützen, ein Generator brummt. Er versorgt Lampen mit Strom, die die leere Fläche abends ausleuchten. Ein Wachmann tritt aus einem pinken Klo-Häuschen und lässt die Tür hinter sich zufallen. Auf Fragen reagiert er mit Schweigen und bösen Blicken. Er bewacht eine Baustelle, auf der nicht mehr gebaut werden darf.
Die Mülltonnen wurden trotzdem schon geliefert – mit blauen und gelben Deckeln. Irgendjemand hat sie mit den Protestklebern versehen, die überall im Ort, im Landkreis, im Bundesland zu finden sind und mittlerweile auch deutschlandweit per Post verschickt werden: Upahl steht darauf. Und der Hashtag #nichtgefragt.
Upahl als Symbol einer Widerstandsbewegung
Die Sticker sind dem Ortsschild des kleinen Dorfes im Landkreis Nordwestmecklenburg nachempfunden. Das Dorf ist zum Symbol einer Widerstandsbewegung geworden, deren Wirken Folgen für die Migrationsdebatte in ganz Deutschland haben könnte.
2015 prägte zumindest zu Beginn eine Willkommenskultur die große Flüchtlingskrise. In diesem Jahr, in dem eine neuerliche Migrationskrise heraufzieht, könnte es von Anfang an eine Protestkultur sein, die in Upahl ihren Ausgang genommen hat. Upahl – ein Ort, von dem Geschichtsschreiber in den vergangenen Jahrhunderten kaum Notiz genommen haben, plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Es begann mit einem Plan, den rückblickend niemand mehr so richtig gut finden will: 400 Flüchtlinge sollten auf der brach liegenden Fläche am Rande des 500-Einwohner-Dorfes untergebracht werden. Bisher hatte der Landkreis alle Asylbewerber in der Kreisstadt Wismar zentral untergebracht. Doch der Platz wurde knapp.
Proteste griffen auf Nachbarorte über
Und so fiel der Fokus auf das Gewerbegebiet „An der Silberkuhle“ in Upahl. Die Dorfbewohner sagen, niemand habe sie gefragt. Es endete vorläufig in Protesten, die auch auf Nachbarorte übergriffen, in Gerichtsurteilen und einem politischen Patt, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint, den so recht aber auch niemand sucht.
Ortswechsel: Grevesmühlen, wenige Autominuten von der brach liegenden Baustelle in Upahl entfernt, ebenfalls Landkreis Nordwestmecklenburg. Der Kreistag trifft sich an einem Donnerstagabend um 17 Uhr in der alten Malzfabrik. Auf der Tagesordnung steht wieder einmal die Migrationspolitik. Die Folgen der großen Krisen der Welt müssen vor Ort von Freizeitpolitikern gemanagt werden. Die Polizei schirmt den Veranstaltungsort ab. In voller Montur sind die Beamten vorgefahren, mit Helmen und Schlagstöcken, so als erwarteten sie gewaltbereite Hooligans. Gerade noch ist ein Gewitter mit einem Höllenlärm niedergegangen, dann bricht der Himmel auf, und die Sonne kommt hervor.
Aus allen Richtungen strömen Menschen herbei. Manche haben die T-Shirt-Variante des Protestklebers von Upahl am Körper. Andere tragen Transparente oder machen mit Trillerpfeifen oder Tröten Krach. 180 Demonstranten werden es am Ende nach Zählung der Polizei sein, die zwei Stunden vor dem Kreistag lärmen, ohne dass die Parlamentarier davon im Innern viel mitbekommen. Die Mauern der Malzfabrik sind dick.
Nicht die ersten Schlagzeilen aus Nordwestmecklenburg
Allein die Lokalpolitiker der AfD und der NPD suchen den Kontakt, machen Fotos und Videos und recken den Daumen. Man kennt sich. Man schätzt sich. Von einigen Demonstranten ist zu hören, dass sie lieber den Landrat oder die Ministerpräsidentin hier gesehen hätten, um ihnen die Meinung ins Gesicht zu sagen. Vor allem aber, um wahrgenommen zu werden – das hört man hier immer wieder.
Dennoch waren es schon einmal bedeutend mehr Demonstranten. Und es war schon einmal deutlich aggressiver: Ende Januar versuchten Demo-Teilnehmer den Kreistag zu stürmen.
Die Polizei hatte ihre liebe Mühe, die Demokratie zu schützen. Am Tag darauf war Nordwestmecklenburg bundesweit in den Medien. Die Aufmerksamkeit aber verflog schnell. Der Protest und die ungelöste Frage der Flüchtlingsunterbringung blieben.
Dementsprechend verwittert sind mittlerweile einige der Plakate, die in den Ortschaften des Landkreises überall zu finden sind. „Mama, wir wollen kein Arabisch lernen“, heißt es auf einem. Oder auf einem anderen: „Nordwestmecklenburg steht auf.“ Der Protest geht weiter. An die 30 Veranstaltungen dürften es mittlerweile gewesen sein: Autokorsos, Lichter-Prozessionen und klassische Kundgebungen.
„Wir sind das Volk. Das Fass ist voll“
Über Megafone werden Botschaften immer und immer wieder abgespielt. Es sind Phrasen und Reime, teils fremdenfeindlich: „Wir führen die Diktatur nicht wieder ein. Das Volk sagt Nein“, scheppert es über den Platz vor der Malzfabrik. Und weiter: „Wirtschaftsflüchtlinge raus. Wir wollen Demokratie und Mitbestimmung. Flüchtlingsstopp sofort. Berlin hat versagt. Wir leisten Widerstand. Widerstand. Widerstand. Wir sind das Volk. Das Fass ist voll.“
Wer sich unter den Demonstranten hier und bei anderen derartigen Versammlungen umhört, merkt schnell: Es geht vielen gar nicht um die schiere Zahl der Flüchtlinge. 400 Asylbewerber? Oder doch nur 200, wie es der Kreistag an jenem Donnerstagabend mehrheitlich beschließt? Gar keine, lautet eine häufige Antwort.
Das beobachtet auch Ulrike Seemann-Katz vom Flüchtlingsrat Mecklenburg-Vorpommern. Die Art der Unterbringung in Massenunterkünften oder die vermutete Überforderung des ländlichen Raumes seien nicht eigentlicher Anlass für den Protest, sagt sie. „Es geht darum, dass man keine Fremden in seiner Nachbarschaft haben will. Das ist der eigentliche Antrieb.“
Keine Fremden in der Nachbarschaft erwünscht
In den Orten in Nordwestmecklenburg gehen Schauermärchen über Flüchtlinge um. Das Fünkchen Wahrheit, das ihnen innewohnt, sind Einzelfälle schrecklicher Verbrechen von Flüchtlingen, die durch Medien und vor allem soziale Netzwerke geistern: Der Messerstecher im Zug von Brokstedt, der Vergewaltiger und Mörder von Maria in Freiburg. Hier in Nordwestmecklenburg potenzieren sich die Einzelfälle zu allgemeiner Ablehnung von Fremden.
Und die wird in fast verstörender Selbstverständlichkeit artikuliert. „Wir wollen hier gar keine Flüchtlinge“, erklärt ein Rentner am Rande der Demo in Grevesmühlen und bestätigt damit Seemann-Katz vom Flüchtlingsrat. „In die Flüchtlinge wird alles reinsteckt, aber die Rentner bei uns müssen sich mit trockenem Brot zufriedengeben“, führt er aus. „Uns würde auch keiner aufnehmen, wenn wir nach Israel oder Ägypten fliehen.“
Gegenproteste sind rar
Ebenfalls bei einer Demo in Grevesmühlen einige Tage zuvor sagte ein Rentner: „Wir haben die teuersten Strompreise in Europa, keine Ärzte mehr und jetzt diese Überfremdung.“
Mancherorts gibt es Gegenproteste. Doch die Stimmen für mehr Toleranz und Weltoffenheit sind in Nordwestmecklenburg bislang in der Unterzahl. Den wenigen Gegendemonstranten stößt auf, dass bei den Kundgebungen gegen die geplanten Flüchtlingsunterkünfte bei genauerem Hinsehen auch stramm Rechte mitmarschieren – und sich die anderen nicht von ihnen distanzieren.
Tatsächlich gehen die Upahler vorerst als Sieger aus dem Kräftemessen mit dem Staat: Ein Gericht verbot den Weiterbau der Unterkunft in dem Gewerbegebiet. Der insgesamt überfordert wirkende Landrat Tino Schomann (CDU) handelte mit den übrigen Landkreisen und der Landesregierung einen Aufnahmestopp für Flüchtlinge für seinen Landkreis aus.
Zumindest vorläufig. Von einer „Atempause“ ist die Rede. Denn irgendwann soll Nordwestmecklenburg nachholen, was jetzt andere Landkreise leisten. Der Gemeinderat in Upahl hat zwischenzeitlich entschieden, dass kein Flüchtlingsheim in dem Gewerbegebiet gebaut werden soll. Ein möglicher Standort in dem Landkreis könnte Warin sein: Jüngsten Berichten zufolge hat ein privater Eigentümer der Stadt ein Grundstück angeboten, auf dem etwa 150 Personen untergebracht werden könnten. Wann das so weit sein könnte und wie lange die Plätze ausreichen, kann bislang niemand sagen.
Und nun weiß niemand mehr so recht weiter. Die Politik schiebt die Verantwortung zwischen den Ebenen hin und her: Bürgermeister und Landräte auf die Landesregierungen. Die Landesregierungen zurück, aber auch auf die Bundesregierung. Und die? Scheint abgetaucht. Ein Flüchtlingsgipfel zwischen Bund und Ländern sollte nach Ostern stattfinden, hieß es. Der Gipfel mit dem Kanzler ist nun auf den 10. Mai terminiert.
Verteilung nach dem Königsteiner Schlüssel
Bis dahin werden vorsichtig geschätzt 50.000, wohl eher 100.000 Menschen Deutschland erreicht haben und untergebracht werden müssen. Anders gesagt: einmal die Einwohnerzahl von Mecklenburg-Vorpommerns Landeshauptstadt Schwerin. Und der Sommer mit den tendenziell höheren Zuzugszahlen folgt erst noch.
Das Flächenland im Nordosten und damit auch der Kreis Nordwestmecklenburg wird nur einen Bruchteil der Flüchtlinge aufnehmen müssen. Die Verteilung wird nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel organisiert, dem die Steuereinnahmen des Landes und die Bevölkerungszahl zugrunde liegen.
Demnach nimmt Mecklenburg-Vorpommern weniger als zwei Prozent der Flüchtlinge auf, die Deutschland erreichen. Nur das Saarland und Bremen müssen weniger leisten. Im Januar 2023 lag die Schweriner Landesregierung in beiden Verteilsystemen für Flüchtlinge aus der Ukraine und für Asylbewerber teils dreistellig im Rückstand. Dieser Fakt aber spielt in den Diskussionen keine Rolle. Ausgerechnet dort, wo ohnehin wenige Menschen aufgenommen werden müssen, ist es vorläufig gelungen, genau das zu verhindern.