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Am Rand der GesellschaftWie die Unterbringung der Geflüchteten für Probleme sorgt

Lesezeit 7 Minuten
Felipe König steht auf einer Straße

In die Mühlen der Migrationsbürokratie geraten: der deutsch-chilenische Asylbewerber Felipe König.

Mehr als 100.000 Flüchtlinge sind seit Jahresanfang nach Deutschland gekommen. Aber wo sind sie eigentlich? Oftmals abgeschoben an den Rand der Gesellschaft. Und das sorgt für Probleme, wie ein Beispiel aus Rostock zeigt.

Industriestraße lautet die Anschrift der Sammelunterkunft in Rostock. Schon die Adresse verrät, dass dieser Ort nicht zum Leben gedacht ist. Am Ende der Straße in einer Sackgasse liegt das Flüchtlingsheim, das eigentlich kein Heim, sondern eine Werkhalle ist. Von der Straße aus deutet nur ein Banner des Deutschen Roten Kreuzes auf die Unterkunft hin. Das DRK betreibt die Einrichtung im Auftrag der Stadt.

Vor einigen Wochen machte die Unterkunft bundesweit Schlagzeilen. Die Bewohner waren unzufrieden mit dem Essen, das ihnen vorgesetzt wurde. Der Sicherheitsdienst fühlte sich offenbar bedroht und rief die Polizei. Die Lage beruhigte sich schnell. Die AfD erfand trotzdem die Schlagzeile: „Ausschreitungen im Flüchtlingsheim, weil das Essen nicht schmeckte.“

Der Eindruck, der erweckt wurde: Menschen, denen Deutschland Obdach bietet und die es durchfüttert, sind auch noch undankbar. Aber so simpel ist es nicht. Weder die Sache mit dem Essen noch die mit dem Asyl, wie ein OrtsBesuch am Ende in der Industriestraße zeigt.

Der Eingang der Unterkunft liegt auf der Rückseite neben den Mülltonnen und Dusch- und Toiletten-Containern. Im vorderen Teil des Gebäudekomplexes ist ein Maschinenbauunternehmen beheimatet, im hinteren Teil leben seit einigen Monaten im Schnitt mehr als 260 Flüchtlinge – Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Überwiegend jüngere Männer, aber auch Frauen und ein Kind.

Kein Zutritt für die Öffentlichkeit

Schon von außen wirkt das alles recht unwirtlich. Und von innen? Stadt und DRK wollen keine Reporter hineinlassen. Ein Sicherheitsdienst blockiert vor Ort den Zugang. Das offene Rolltor der Halle gibt zumindest kurz den Blick frei auf Bierzeltgarnituren und Leichtbauwände. An der Decke hängen Industriekrane. Der Sicherheitsdienst interveniert. Kein Zutritt, kein Einblick in die Lebenswirklichkeit. Die Öffentlichkeit scheint unerwünscht, so als hätte man etwas zu verbergen oder schäme sich. Die offizielle Begründung der Stadt Rostock ist die Privatsphäre der Bewohner, die man schützen möchte.

Aber zumindest ein Teil dieser Bewohner will über die Umstände reden, unter denen sie in der Industriestraße in Rostock leben. Vorne weg: Felipe König, Chilene mit deutschen Wurzeln und deutschem Führerschein. Den zieht er später hervor, um seine ziemlich unglaubliche Geschichte zu untermauern.

Weil der Besuch nicht rein darf, kommt König raus. Mit seinem Rollator schiebt er sich den gut 200 Meter langen Weg entlang, der Flüchtlingsheim und Industriestraße miteinander verbindet. Er habe sich vor einigen Wochen in einer anderen Unterkunft beim Fußballspielen verletzt, sagt er fast entschuldigend.

Was ihm beim Gehen an Geschwindigkeit fehlt, gleicht er beim Reden aus. König spricht Deutsch. „Anders als alle anderen hier. Ich kann sagen, was es für Probleme gibt. Die anderen versteht niemand und sie verstehen nichts“, sagt er. Die anderen, das sind Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, der Türkei, aber auch aus Afrika, die hier von der Stadt untergebracht worden sind. König sagt, er sei in Rostock zum Aktivisten geworden und klage nun stellvertretend die „grausamen Lebensumstände“ an.

Leben durch Kriminelle bedroht

Früher, erzählt König und seine Augen blitzen, habe er als Jugendlicher mit dem späteren Bundesliga-Profi Michael Rummenigge Fußball gespielt. Ja, ja, lange sei das mittlerweile her und er heute 60 Jahre alt. Dazwischen liegt ein offenkundig turbulentes Leben als Unternehmer zwischen Chile und Deutschland, wo nach Auskunft Königs seine Mutter lebt. In Bayern genauer gesagt.

Dort habe er auch seinen Asylantrag vor einigen Monaten gestellt. Seine Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland sei abgelaufen. Zurück nach Chile könne er nicht, dort sei sein Leben durch Kriminelle bedroht, sagt der Unternehmer, ohne weiter ins Detail zu gehen. Dass es ihm wirtschaftlich nicht schlecht zu gehen scheint, belegt er mit Fotos von Pferden, die offenbar ihm in Chile gehören.

Mit dem Wort „Asyl“ geriet König seiner Schilderung nach in die Mühlen der deutschen Migrationsbürokratie: Von Bayern ging es in die Erstaufnahme des Landes Mecklenburg-Vorpommern, von da weiter in die Unterkunft der Stadt Rostock. Warum er hier ist, wenn er doch Familie in Deutschland hat? Die Gesetze in Deutschland wollen es so.

Asylbewerber dürfen sich nicht einfach so aussuchen, wo sie sich niederlassen. Ihnen wird der Wohnort zugewiesen. Selbst wenn sie bei Verwandten unterkommen könnten und der Staat dadurch Geld spart, geht das nicht. Das System kennt keine Ausnahmen – und sorgt so selbst dafür, dass Sammelunterkünfte wie die in Rostock voller sind, als sie sein müssten.

Seit Anfang Februar lebt König in der Industriestraße. Wobei er selbst nicht von leben spricht. Es sei laut, man könne kaum schlafen und es gebe fast keine Privatsphäre. Wie auch in einer Industriehalle? Seine Familie wisse nicht, dass er hier sei. Wenn seine in Chile lebenden Kinder fragten, wie es ihm gehe und wo er sei, lüge er. „Ich sage, es gebe ein paar Probleme mit den Papieren, aber bald werde alles gut.“

Von 369 Euro bleiben noch 211,97 Euro

Das stimmt nicht. Die Bearbeitungszeit eines Asylantrags dauert in Deutschland derzeit im Schnitt etwa sieben Monate – mal kürzer, mal deutlich länger. Erst dann steht fest, ob Menschen einen Schutzanspruch in Deutschland haben oder nicht. Für Felipe König sieht es eher schlecht aus. Von den zehn Chilenen, die im vergangenen Jahr in Deutschland Asyl beantragten, bekam nur einer einen Schutzstatus zugesprochen.

Trotz allem sitzt er in der Sammelunterkunft fest. Er und andere sprechen von einer Art Gefängnis. Sie zeigen den Reportern Fotos von Mahlzeiten, die offenbar in der Halle serviert wurden und Anlass für das Aufbegehren vor einigen Wochen waren. Bei manchen Gerichten ist wahrlich schwer zu sagen, um was es sich in den kleinen Plastikschüsselchen handeln soll. Bei anderen trifft es die Umschreibung von Felipe ganz gut: „Wasser mit Karotten.“

Die Verpflegungskosten zieht der Staat den Bewohnern von den Geldzahlungen ab, die ihnen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zustehen. Von dem Regelsatz von 369 Euro bleiben so noch 211,97, wie die Stadt Rostock mitteilt. Eigene Kochmöglichkeiten gibt es in der Unterkunft nicht. Das befeuerte die Empörung.

Dass Deutschland auch anders kann, sehen die Bewohner immer wieder: In der Halle werden kurzfristig auch Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine untergebracht. Für diese gelten aber andere Regeln. Sie können sich in Deutschland Wohnung und Arbeit suchen, auch bekommen sie mehr Geld vom Staat als Asylbewerber. Sie können Bürgergeld in Höhe von 502 Euro beantragen. In der Unterkunft in Rostock sorgt das für großen Unmut. Die Ukrainer dürfen sich ein Leben in Deutschland aufbauen, die Asylbewerber sind de facto Flüchtlinge zweiter Klasse. Ihnen bleibt nur zu warten.

„Es gibt nichts zu tun. Man wacht auf und starrt die Decke an. Das haben die jungen Menschen nicht verdient“, sagt Felipe König. Es gebe keine Integrations- oder Sprachkurse. Das bestätigt ein Flüchtling aus dem Iran, der nach eigenen Angaben bereits fünf Monate in der Unterkunft lebt. Menschenunwürdig sei das, wie Deutschland mit den Flüchtlingen umgehe, sagt er auf Englisch. Von Deutschland hat der 28-Jährige etwas anderes erwartet, als er über Belarus nach Deutschland einreiste und Asyl beantragte.

Nun sitzen er, Felipe König und etwa 260 andere in der Industriehalle. Ein bisschen was scheint sich nach dem Protest verbessert zu haben. Trennwände wurden geliefert und Pritschen durch Doppelstockbetten aus Holz ersetzt. Darauf deuten zumindest die Aufnahmen aus dem Halleninnern hin. Geblieben ist die Perspektivlosigkeit und das Unverständnis der Bewohner über das deutsche Asylsystem.

Felipe König fasst es so zusammen: „Deutschland ist doch das Land der Gesetze und der Gerechtigkeit. Wo aber ist hier die Gerechtigkeit? Das ist nicht das Deutschland, das ich kenne.“ Er sorgt sich. Das könne doch nicht lange gut gehen, so viele Menschen mit so unterschiedlichen Problemen auf so engem Raum. Mehrere Bewohner berichten von offenbar psychisch erkrankten Personen in der Halle.„Schon für gesunde Menschen ist die Situation extrem herausfordernd. Für traumatisierte Menschen ist es nicht auszuhalten“, sagt auch Angela Nielsen. Sie engagiert sich bei der Flüchtlingsorganisation „Rostock hilft“.

Kaum Leerstand in den Heimen

Die Flüchtlingshelfer aus Rostock fordern, die Unterkunft am Rand der Stadt dicht zu machen. Auch Felipe König befürwortet das. Die Stadtverwaltung hält dagegen, es mangele an Wohnraum und Unterbringungsmöglichkeiten. Acht Großunterkünfte für 100 und mehr Menschen unterhält die Stadt bereits jetzt. Bis Jahresende rechnet die Verwaltung mit der Zuweisung von 1000 Flüchtlingen, im gesamten Vorjahr waren es 415. Es gebe kaum Leerstand, heißt es. Eine Situation, wie sie wohl auf viele Kommunen in Deutschland zutrifft.

„Was macht die Aussichtslosigkeit mit den jungen Menschen?“, fragt König stellvertretend für seine Mitbewohner und liefert die Antwort gleich mit: Er schäme sich. „Aber bei anderen entsteht Hass in ihren Herzen auf Deutschland. Dabei ist das Land doch eigentlich wunderbar.“