AboAbonnieren

Enttäuschte HoffnungenWarum die Türkei nach der Wahl unter Schock steht

Lesezeit 5 Minuten
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Frau Emine winken.

Vom Balkon aus nahm ein siegessicherer Präsident gemeinsam mit seiner Frau Ermine den Jubel entgegen.

Lange sah es so aus, als ob Langzeit-Staatschef Erdogan abgewirtschaftet habe. Doch nach den Ergebnissen vom Sonntag ist die Opposition am Boden zerstört. Der Glaube an einen Machtwechsel weicht der Verzweiflung.

„Schock“, so drückt es ein Spaziergänger im Gezi-Park am Morgen nach der Wahl in der Türkei aus, während sein Hündchen ihm die Leine um die Beine wickelt. Tiefen Schock empfinde er, sagt Mustafa, weil er mit dieser Niederlage der Opposition nicht gerechnet habe – und Trauer, weil es nun keine Hoffnung auf eine andere Zukunft mehr gebe.

Sicher, er werde wohl auch künftig seinen Hund im Park ausführen, Freunde treffen und Tee trinken können, sagt der bärtige 47-Jährige: „Das wird man mir wohl nicht nehmen.“ Größere Zukunftspläne hätten aber keinen Sinn mehr, denn ohne Verbindungen zur Regierungspartei AKP könne man nach dieser Wahl in der Türkei nun nichts mehr werden. Daran werde auch die Stichwahl in zwei Wochen nichts mehr ändern, glaubt Mustafa. Für links denkende Menschen wie ihn sieht er nach dieser Wahl nur noch zwei Optionen: Anpassung und Unterwerfung – oder Rückzug ins Private.

Kemal Kilicdaroglu

Seinem Herausforderer Kilicdaroglu war die Enttäuschung anzusehen.

Millionen Türken wie Mustafa hatten der Wahl am Sonntag entgegengefiebert, weil sie sicher waren, dass sie einen Neubeginn in ihrem Land und ihrem Leben einläuten werde. Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu ging als Favorit in das Rennen um das Präsidentenamt, Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan wirkte im Wahlkampf zeitweise ausgelaugt und ideenlos. Seine 20-jährige Herrschaft stand vor dem Ende, so schien es.

Als die Wahllokale am Sonntagnachmittag schlossen, freuten sich Anhänger der Opposition über erste Ergebnisse, die ihren Kandidaten auf der Siegerstraße zeigten. Als dann klar wurde, dass Erdogan mehr Stimmen eingefahren hatte als Kilicdaroglu, herrschte bei der Opposition zunächst Misstrauen: Viele vermuteten Wahlbetrug. Doch dann bestätigten auch die Zahlen von Kilicdaroglus Partei CHP, dass Erdogan vorne lag. Am Ende lautete das Ergebnis: 49,4 Prozent für Erdogan und 44,9 Prozent für Kilicdaroglu. Der Oppositionskandidat war mit dem Versuch gescheitert, Erdogan in der ersten Runde zu besiegen. Nun gibt es eine Stichwahl am 28. Mai – doch die Zuversicht der Opposition ist dahin.

Im einstigen Zentrum des Protestes herrscht Stille

Still ist es im Gezi-Park am Morgen danach. Die Motoren der Wasserwerfer der Polizei sind abgeschaltet, ein paar Obdachlose schlafen auf den Bänken, der Teegarten wartet in der Frühlingssonne vergeblich auf Gäste. Vor zehn Jahren demonstrierten hier Zehntausende Menschen gegen Erdogan; wochenlang zelteten sie im Frühjahr 2013 unter den Bäumen und träumten von der Revolution – bis sie von den Wasserwerfern weggefegt wurden, die seither ständig vor dem Park stehen.

Die Gezi-Proteste waren Ausdruck der Verzweiflung und des Überdrusses, meint Mustafa, der damals auch dabei war. Die Hoffnung auf Veränderung sei aber bei den Kommunalwahlen vor vier Jahren aufgekeimt, als der Oppositionskandidat Ekrem Imamoglu zum Bürgermeister von Istanbul gewählt wurde. Vielleicht wäre Imamoglu ein besserer Kandidat für das Präsidentenamt gewesen als Kilicdaroglu, überlegt Mustafa laut, und wischt den Gedanken dann schnell wieder beiseite: zu spät.

Wie konnte sich der schon sicher geglaubte Sieg in eine Niederlage verwandeln? Kilicdaroglus Anhänger sind ratlos. „Ich habe heute Morgen so viele Fragen im Kopf und keine Antworten“, schreibt der Komponist Fazil Say auf Twitter. „Wie konnte das geschehen, was wird aus unserem Leben, unserer Hoffnung, unserer Zukunft?“, fragt er. „Alles weg. Ich schweige.“

Auf der Suche nach den Gründen beklagen manche Oppositionsanhänger die Macht der Regierung über die Medien und die Staatskasse, die Erdogan eine Dauerpräsenz im Fernsehen – sein letztes Interview vor Sonntag wurde von mehr als 20 Sendern live ausgestrahlt – und teure Wahlgeschenke erlauben. Alleine daran kann es allerdings nicht liegen. Millionen Türken sind verärgert über die hohe Inflation, über Korruption und Arroganz der Regierung, über die späte Erdbebenhilfe. Kilicdaroglu machte diese Kritik zum Hauptthema seines Wahlkampfes. Er bildete ein breites Parteienbündnis, das von den Kurden bis zu den Konservativen reichte. Gegen Erdogans Polarisierung setzte er die Botschaft der Versöhnung.

Und doch bekam Erdogan am Sonntag 2,4 Millionen Stimmen mehr als sein Herausforderer. Noch in der Nacht hielt der Präsident wieder eine seiner „Balkon-Reden“. Die Ansprachen vom Balkon der AKP-Parteizentrale sind für Erdogan eine Tradition nach jedem Wahlerfolg. Diesmal rief sich der 69-jährige Staatschef zwar nicht zum Sieger aus: „Aber wir liegen weit vorne“, sagte er. Erdogan weiß, dass er bei der Stichwahl die besseren Karten hat. Für ihn sind die fast drei Millionen Wähler, die am Sonntag für den rechtsnationalen Kandidaten Sinan Ogan stimmten und bei der Stichwahl entscheidend sein dürften, wesentlich leichter zu erreichen als für Kilicdaroglu. Auf dem Balkon war Erdogan so gut gelaunt, dass er ein Liedchen sang.

Kilicdaroglu dagegen ließ sich in der Nacht zum Montag nur zwei Minuten lang sehen. „Wir werden gewinnen und diesem Land die Demokratie bringen“, sagte er im CHP-Hauptquartier in Ankara. Der Beifall blieb dünn.

Erste Schuldzuweisungen in den Reihen der Opposition

Am Tag nach dem Debakel suchen manche Beobachter die Schuld für die Schlappe der Opposition bei den Demoskopen. Selbst die angesehensten Institute des Landes hatten einen Sieg von Kilicdaroglu vorausgesagt, manche sogar einen Erfolg in der ersten Runde. Damit hätten die Meinungsforscher ein falsches Bild entworfen und Erdogans Wählerpotenzial unterschätzt, lautet der Vorwurf. In den Reihen der Opposition begannen derweil die gegenseitigen Schuldzuweisungen. Die Kurdenpartei YSP warf der mit ihr verbündeten Linkspartei TIP vor, durch Alleingänge in einigen Wahlbezirken der Opposition geschadet zu haben.

Prominente Oppositionsanhänger verzweifeln. Mehmet Yilmaz, ein bekannter Journalist und langjähriger Erdogan-Kritiker, hält die Stichwahl schon jetzt für verloren. Er habe seine eigene Gesellschaft nicht richtig verstanden, schreibt Yilmaz gestern in seiner Kolumne für das Nachrichtenportal T24. Die Türkei werde von Armut, Zukunftsangst und inkompetenten Behörden zerrüttet. „Ich dachte, das seien wichtige Sorgen, aber nun weiß ich, dass sie für die Mehrheit unserer Bevölkerung nicht so wichtig sind.“ Der Türkei stehe in den nächsten Jahren nichts Gutes bevor, sagt Yilmaz voraus. Schreiben will er vorläufig nicht mehr.