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Ukrainischer Top-General Saluschnyj abgelöstWas für einen „Neustart“ will Präsident Selenskyj?

Lesezeit 8 Minuten
Dieses vom ukrainischen Präsidialamt zur Verfügung gestellte Foto zeigt den Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte, Waleryj Saluschnyj, bei einem Treffen mit US-Außenminister Blinken, US-Verteidigungsminister Austin und dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj in Kiew.

Ein Foto vom zweiten Kriegstag: Walerij Saluschnyj am 25. Februar 2022

Was steckt hinter der Ablösung des ukrainischen Generalstabschefs Walerij Saluschnyj? Der Vier-Sterne-General hatte seine Ansichten wohl allzu ungeniert öffentlich gemacht.

„Ein Neustart ist notwendig": Das hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Sonntag dem italienischen Rundfunk RAI gesagt. Er war nach der Zukunft des populären Generalstabschefs Walerij Saluschnyj gefragt worden. Ein paar Tage später die Entscheidung: Saluschnyj wird durch den bisherigen Herreschef Oleksandr Syrskyj abgelöst. Das teilte Selenskyj am Donnerstagabend in seiner regelmäßigen Videobotschaft mit.

Wie kam es zur Ablösung?

Selenskyjs Botschaft ist der letzte Akt in einem mehrtägigen Drama. Schon am 29. Januar muss es nach übereinstimmenden Berichten westlicher (BBC) und ukrainischer Medien ein Dreiertreffen von Präsident, Generalstabschef und Verteidigungsminister Rustem Umerow gegeben haben. Selenskyj soll seinem obersten Militär den Wechsel auf eine andere herausgehobene Position nahegelegt haben, Saluschnyj habe demnach abgelehnt. Fürs erste schien es seine Position zu stärken, dass dies öffentlich wurde. Weniger förderlich dürfte es gewesen sein, dass sich Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko öffentlich für Saluschnyj stark machte – denn der Ex-Boxer ist als Gegner von Selenskyj bekannt.

Schon vor dem RAI-Interview aber meinte der renommierte ukrainische Journaliste Denis Trubetskoy, der unter anderem für n-tv arbeitet, eine „Personalentscheidung zu Saluschnyj“ sei unausweichlich. Aber wann sie komme und wer den Vier-Sterne-General ablösen könne, das sei unklar.

Wie hat sich Saluschnyj öffentlich geäußert?

Rückblende: Am 1. Februar, also vier Tage vor Selenskyjs RAI-Interview äußerte sich Saluschnyj einem Aufsatz über die Lage im Abwehrkampf gegen die russische Aggression geäußert – und wies auf einige aus ukrainischer Sicht unangenehme Tatsachen hin: das „signifikant höhere“ Potenzial Russlands bei der Mobilisierung von Soldaten etwa, die Grenzen westlicher Rüstungslieferungen und auch Probleme der durch Monopolstrukturen geprägten ukrainischen Rüstungsindustrie.

Der Vorgang weckt Erinnerungen an den November: Damals hatte Saluschnyj schon einmal mit einem Fachaufsatz samt begleitendem Interview für Aufsehen gesorgt – und für Verstimmung bei Präsident Wolodymyr Selenskjyj. Saluschnyjs damalige Äußerungen wurden als Eingeständnis eines militärischen Patts missverstanden, tatsächlich hatte er eher Wege aus dem Stillstand an den Fronten heraus beschreiben wollen.

Damals wählte er den britischen „Economist“ als Plattform, nun den US-Sender CNN. Laut CNN war der Aufsatz aber bereits vor dem bewussten Treffen mit Selenskyj und Umerow entstanden. So oder so bleibt die Frage: Legte der General es mittlerweile auf seinen Rauswurf an – zumal er ausdrücklich einen Punkt anspracht, bei dem er mit Selenskyj über Kreuz lag: die Mobilisierung?

Was sprach überhaupt gegen Saluschnyj?

In der Sache gab es zwei Hauptkonfliktpunkte. Da ist zum einen der „Economist“-Artikel – weniger wegen des Inhalts als wegen der öffentlichen Wirkung und wegen des Umstands, dass Saluschnyj ihn nicht mit der politischen Führung abgestimmt hatte. Der ukrainische Analyst Mykola Bielieskow hält das für den entscheidenden Punkt.

Das andere Streitthema war die Mobilisierung. Saluschnyj hat Selenskyjs Entscheidung kritisiert, nach Korruptionsskandalen die Leiter der regionalen Einberufungsbüros zu entlassen. Aber lief es vorher wirklich besser? Ohnehin kann die politische Führung, die ja auch an den Arbeitskräftebedarf der Industrie denken muss, nicht ohne weiteres dem Wunsch der Militärs nach 450 000 weiteren Soldaten nachkommen, einmal ganz abgesehen davon, dass Selenskyj offensichtlich nicht besonders gerne über das unangenehme Thema redet.

Es gab noch weitere Reibungsflächen. Aus Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“ kommt die Parlamentsabgeordnete Marjana Besuhla, die Saluschnyj seit Monaten wegen aller möglichen Punkte kritisierte – von einer zu stark von sowjetischen Traditionen geprägten Armeeführung bis zu den mageren Ergebnissen der Bodenoffensive im Sommer und Herbst 2023.

Man kann nur rätseln, warum die Ukraine parallel zu mehreren – dann allesamt steckengebliebenen – Vorstößen Richtung Süden auch noch Angriffe rund um die komplett zerstörte Stadt Bachmut im Norden des Donbass startete. Vermutlich werden erst Historiker in Jahrzehnten den Akten des ukrainischen Sicherheitsrates entnehmen, wer den entscheidenden Anstoß dafür gab: Wirklich Saluschnyj? Oder Heereschef Syrskyj? Oder die politische Führung?

Aus Selensksyjs Sicht könnte noch etwas gegen Saluschnyj gesprochen haben: eine Umfrage. Grundsätzlich genießen beide, Präsident und Generalstabschef, breite Unterstützung in der ukrainischen Öffentlichkeit. Aber Selenksyjs Zustimmungswerte sind nach einer Erhebung des „Kyiv International Institute of Sociology“ im Dezember gegenüber dem Vergleichsmonat des Vorjahres deutlich zurückgegangen – von 84 auf 62 Prozent. Saluschnyj, dessen Werte erstmals erfragt wurden, kam auf 88 Prozent, das ukrainische Militär als Institution sogar auf 96 Prozent.

Saluschnyj hat bisher niemals politische Ambitionen erkennen lassen – aber wenn er nach Kriegsende in einen politischen Wettbewerb einsteigen würde, könnte er und wohl nur er den Präsidenten mit guten Erfolgsaussichten herausfordern. Bielieskow hat im Gespräch mit seinem britisch-amerikanischen Kollegen Phillips O’Brien aber empfohlen, nicht allzuviel auf eine solche vermeintliche Konkurrenz zu geben. Die Vertrauenswerte zeigen außerdem, dass Saluschnyjs Sturz ein Risiko für Selenskyj selbst ist: Derzeit stehen wesentlich mehr Befragte hinter dem Generalstabschef als hinter dem Präsidenten selbst.

Was wollte Saluschnyj erreichen?

Saluschnyjs jüngster Aufsatz hat mit dem Papier vom November eins gemeinsam: Der General wollte nicht einfach Alarm schlagen, sondern Lösungen für die von ihm beschriebenen Probleme zeigen.

Saluschnyj räumte ja ein, dass Russland mehr Soldaten einziehen kann, als es die Ukraine je vermögen wird. Aber er sieht einen Ausweg: Überlegene Technik soll die Zahl der Opfer unter den die eigenen Leuten und die Verluste an schwerem Gerät gering halten. Technik, die die ukrainische Rüstungsindustrie selbst entwickeln soll. Angriffe mit ferngesteuerten Waffen umgehen den direkten Feindkontakt. Als Ziele nennt der General unter anderem die wirtschaftliche Schwächung des russischen Gegners und die Isolierung und Zermürbung seiner Streitkräfte.

Vieles von dem, was Saluschnyj forderte, ist in der ukrainischen Kriegsführung Realität. Die Ukraine hat nach der Liste des Portals Oryx bereits 21 russische Kriegsschiffe zerstört oder schwer beschädigt – mit Marschflugkörpern und Drohnen und ohne selbst überhaupt größere Kriegsschiffe zu besitzen. Der Raketenträger „Iwanez“, der in der Nacht zum Donnerstag offenbar von ukrainischen Seedrohnen versenkt wurde, obwohl er in einer weit ins Innere der Krim ragenden Meeresbucht geschützt war, ist da noch nicht mitgezählt.

Insgesamt hatte Moskaus Schwarzmeerflotte zur Kriegsbeginn rund 80 einsatzfähige Schiffe. Die Ukraine hat die russische Seeblockade gebrochen und einen Korridor für Handelsschiffe freigekämpft. Die Häfen Odessa, Chornomorsk und Piwdenny arbeiten wieder nahe an ihrer Auslastung vor dem Krieg.

Anderes Beispiel: Rund 100 Panzer könne Russland pro Monat produzieren oder aus Depots holen und reparieren, rechnete das britische Verteidigungsministerium jüngst vor. Aber Russland verliert auch jeden Monat 70 bis 90 Stück – und das sind nur die von westlichen Beobachtern registrierten Abschüsse. Bislang kamen auf einen zerstörten ukrainischen Panzer drei bis vier russische – und Saluschnyj arbeitet daran, dieses Verhältnis noch zu verbessern.

Oder das Minenräumen: Die Bedingungen bei der ukrainischen Bodenoffensive waren mörderisch. Bemannte Räumfahrzeuge fielen sofort auf und wurden attackiert, letzten Endes mussten Soldaten durch die von den Besatzern gelegten Minenfelder kriechen und die Sprengsätze per Hand entschärfen. Seit dem Herbst experimentiert die Ukraine mit Räum-Robotern – zu spät für die Offensive des letzten Jahres, aber wohl nicht zu spät für den Krieg insgesamt. Und Saluschnyj forderte bereits im „Economist“-Artikel die Entwicklung alternativer Räumverfahren.

Zu den größten Leistungen der ukrainischen Streitkräften gehört die systematische Kampagne gegen russische Stellungen auf der besetzten Krim, jüngst beispielsweise gegen den Luftwaffenstützpukt Belbek. Die Ukrainer haben die russische Luftabwehr stark geschwächt und überfordern sie systematisch, weil sie ja auch ständig Luftschläge im russischen Hinterland führen. Während sie auf der Krim auch westliche Marschflugkörper einsetzen dürfen, wird das russische Staatsgebiet mit selbst gebauten Drohnen attackiert. In den letzten Tagen standen russische Öl- und Gasanlagen im Fokus, zuletzt nahe Wolgograd, zuvor an Küsten-Standorten bei St. Petersburg, in Tuapse und Noworossijsk. Dort also, wo russische Pipelines Ostsee und Schwarzes Meer erreichen und die Schiffe mit Exporten ablegen. Am 31. Januar meldete die Wirtschaftsagentur Reuters, Russland habe den Export von Erdölprodukten wegen der Angriffe einschränken müssen.

Während der russische Präsident Wladimir Putin 40 Prozent der Wirtschaftsleistung in den von ihm entfesselten Krieg steckt, frieren russische Bürger angesichts defekter Fernheizleitungen in ihren Wohnungen – und Saluschnyj will im Abnützungskrieg dafür sorgen, dass Russland noch größere ökonomische Probleme bekommt. Offenbar ist die politische Führung mit diesem Kurs nicht mehr zufrieden. „Neue Ansätze, neue Strategien sind nötig", äußerte Verteidigungsminister Umerow am Freitagabend.

Wer ist der Nachfolge?

Der künftige Generalstabschef Oleksandr Syrskyj hat seine ganz eigenen Probleme in der Öffentlichkeit. Ihm war als Heereschef zwar mit der Charkiw-Offensive im Herbst 2022 ein großer militärischer Erfolg gelungen. Aber der Offizier mit dem altmodischen Titel eines Generaloberst, acht Jahre älter als der 50-jährige Saluschnyj, ist gebürtiger Russe und spricht mit russischem Akzent. Und: Er wurde noch in der Sowjetarmee ausgebildet.

Das wird ihm in Militärkreisen, die sich zum Beispiel um den gut informierten Blogger Tatarigami versammeln, bis heute nachgetragen. Er wird also Probleme haben, an Saluschnyjs Vertrauenswerte anzuknüpfen.

So oder so: Rein fachlich gesehen hat der Nachfolger wohl kaum eine andere Wahl, als den von Saluschnyj beschriebenen Kurs fortzusetzen, das Leben der eigenen Soldaten so weit wie irgend möglich zu schonen, vorsichtig mit den Waffenbeständen umzugehen und die russische Militärmacht und Kriegswirtschaft lieber langsam zu zersetzen. Egal, wie sehr sich der Präsident schnelle Siege wünschen mag. Lässt Syrskyj sich hier zu sehr unter Druck setzen, wird es für die Ukraine gefährlich.