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Interview

Verwaltungsexpertin
„Deutschland ist sehr gut darin, Gesetze unnötig zu verschärfen“

Lesezeit 6 Minuten
Mehrere Stapel mit Akten liegen am Finanzgericht

Mehrere Stapel mit Akten liegen am Finanzgericht 

Verwaltungsexpertin Sabine Kuhlmann sieht in immer mehr Bereichen eine Lähmung durch zu viel Bürokratie. Wir haben mit ihr dazu gesprochen.

Die Reduzierung staatlicher Hindernisse gehört zu den Gelübden jeder Bundesregierung. Unterm Strich ist wenig passiert. Sabine Kuhlmann ist Verwaltungswissenschaftlerin an der Uni Potsdam und Vizechefin des Normenkontrollrats, einem unabhängigen Gremium, das der Regierung beim Bürokratieabbau helfen soll. Warum wir ein Problem mit Überregulierung haben und wie wir es beseitigen können, erklärt sie im Interview mit Leon Grupe.

Frau Kuhlmann, warum brauchen wir bürokratische Strukturen überhaupt?

Der berühmte Soziologe Max Weber hat einmal gesagt: „Bürokratie ist die rationalste Form der legalen Herrschaft.“ Ein funktionierendes Regelsystem verhindert Willkürherrschaft und sorgt für Rechtsschutz und Gleichbehandlung. Ob ich einen Personalausweis bekomme, hängt nicht von meinem sozialen Status ab. Vor dem Amt sind wir im Zweifel alle gleich. Und das ist gut so.

Trotzdem sind Ressentiments gegen Bürokratie und Verwaltung vermutlich so groß wie noch nie, die Wirtschaft schlägt Alarm. Sind die Vorwürfe gerechtfertigt?

Aus meiner Sicht: ja. Die Bürokratielast in Deutschland schadet der Wettbewerbsfähigkeit. In Analysen sehen wir, dass in den letzten Jahrzehnten der Erfüllungsaufwand, also die Ausgaben, die erforderlich sind, um neue Vorschriften in der Praxis umzusetzen, deutlich gestiegen ist. Gleichzeitig haben sich auch die Bürokratiekosten, damit ist der Papierkram, wie Dokumentationspflichten gemeint, nicht spürbar verringert. Darunter leiden aber nicht nur Unternehmen und Bürger. Auch die Verwaltung kämpft immer stärker mit Überregulierung.

Wie konnte es so weit kommen?

Jede Regierung versucht ihr Programm umzusetzen und beschließt dafür neue Gesetze. Ein Hauptproblem ist aber strukturell bedingt: Tauchen neue politische Herausforderungen auf, neigen wir dazu, diese so engmaschig wie möglich zu regulieren. Ich denke da an Bereiche wie Cybersecurity, Künstliche Intelligenz, Verbraucher- und Klimaschutz. Diese Themen brauchen einen klaren gesetzlichen Rahmen. Aber wenn wir alles überregulieren, schränken wir den Handlungsspielraum der Behörden extrem ein. Das macht sie starr und unflexibel. Außerdem müssen wir uns endlich von dem Wunsch nach „Einzelfallgerechtigkeit“ lösen – einer Gesetzgebung, die alle Situationen und Lebenslagen berücksichtigt.

Und diese Probleme sind in Deutschland stärker ausgeprägt als in anderen Ländern?

Ja. In der Wissenschaft sprechen wir auch von einer verrechtlichten Verwaltungskultur. Die Gesetze, die in den Ministerien entstehen, werden überwiegend von Juristen geschrieben. Die haben enormes Fachwissen, achten aber wenig auf die Vollzugs- und Praxistauglichkeit. Das Ergebnis ist ein Dickicht an wahnsinnig komplexen Vorschriften, die von Unternehmen und Kommunen überhaupt nicht umgesetzt werden können.

Viele Regeln kommen aus Brüssel, sie gelten in allen Ländern der EU. Was lässt sich da tun?

Deutschland ist sehr gut darin, bei EU-Vorhaben eine Schippe draufzulegen und Gesetze unnötig zu verschärfen. Wir nennen das Gold-Plating. In dieser Hinsicht sind wir zu perfektionistisch, davon müssen wir weg. Aber die Probleme liegen auch in Brüssel. Dort gibt es zwar das Regulatory Scrutiny Board. Es ist in der Kommission angedockt und quasi das europäische Äquivalent zum Normenkontrollrat. Allerdings ist der Einfluss des RSB zu gering, um sehr bürokratische Regelungen zu verhindern. Und ein weiterer Punkt: Die Mitgliedstaaten müssten eigentlich in der europäischen Rechtssetzung frühzeitig vor praxisuntauglichen Regulierungen und übermäßigen bürokratischen Lasten warnen können. Aber dieses Instrument fehlt.

Welche anderen Defizite erkennen Sie in Deutschland?

Bei der Digitalisierung der Verwaltung müssen wir endlich entscheidend vorankommen. Nach unseren Berechnungen birgt das ein Einsparpotenzial in Milliardenhöhe. Dafür brauchen wir aber einen ganzheitlichen Ansatz, der alle Prozesse erfasst. Es ist ja nicht so, dass bei der Digitalisierung nichts passiert, bloß passen die einzelnen Bausteine oft nicht zusammen. Die Medienbruchfreiheit ist hier entscheidend. Künftig müssen wir in der Lage sein, Verwaltungsleistungen komplett digital abzuwickeln – ohne analoge Unterbrechungen.

Seit dem neuen Jahr gilt das vierte Bürokratieentlastungsgesetz, es soll für eine finanzielle Entlastung von fast einer Milliarde Euro jährlich sorgen. Das ist doch was.

Es ist begrüßenswert, dass die Politik aktiv wird und auch Vorschläge von Branchenverbänden berücksichtigt hat. Doch spürbar werden die Unternehmen nicht entlastet, dafür ist das Gesetz viel zu kleinteilig. Es handelt sich hier um einzelne ad-hoc-Maßnahmen, mit denen man das Problem nicht grundsätzlich lösen kann. Stattdessen brauchen wir einen systematischen Ansatz zum Bürokratieabbau, der diesen als Daueraufgabe und Chefsache versteht. Auch eine Reform des Gesetzgebungsprozesses gehört dazu. Dafür brauchen wir einen Praxis-Check, bevor die Gesetze in Kraft treten. Nur so können wir die Rechtsetzung vollzugstauglicher und digitalfähiger gestalten.

Der mögliche neue Bundeskanzler Friedrich Merz will ein Digitalministerium schaffen. Inwiefern könnte das helfen?

Erstmal halte ich das für eine kluge Idee. Wir müssen bloß aufpassen, dass es nicht bei reiner Symbolpolitik bleibt. Es wäre wünschenswert, wenn das Ministerium eine schlagkräftige Einheit bekommt, die die Digitalisierung in der Verwaltung vorantreibt. Zum Beispiel in Form einer Agentur, die man der Behörde nachordnet. Die europäischen Vorreiter bei der Digitalisierung haben zum Teil solche Agenturen. Darin sind die operativen Kompetenzen des Regierungsapparats, die sich mit der Verwaltungsdigitalisierung beschäftigen und die momentan in der deutschen Bundesverwaltung sehr verstreut sind, gebündelt.

Glauben Sie, dass unter einer schwarz-roten Regierung die Überregulierung abnehmen könnte?

Sagen wir mal so: Ich bin vorsichtig optimistisch. Nach meiner Kenntnis gibt es zum ersten Mal in den Koalitionsverhandlungen eine Arbeitsgruppe, die sich explizit mit Bürokratieabbau und Staatsmodernisierung auseinandersetzt. Das Thema ist offenbar weit oben auf der Agenda. Ob die Umsetzung gelingt, ist eine andere Frage. Es wird darauf ankommen, welche Instrumente die künftige Regierung wählt, ob sie etwa Richtung 25-Prozent-Ziel geht.

Was ist damit gemeint?

Wir beim Normenkontrollrat schlagen vor, dass in den nächsten vier Jahren 25 Prozent des Erfüllungsaufwandes und der Bürokratiekosten, die seit 2011 entstanden sind, abgebaut werden sollen. Das Einsparpotenzial ist hoch: insgesamt 21 Milliarden Euro. Wir sind gespannt, ob oder inwieweit ein solcher Vorschlag von den Koalitionsverhandlern aufgegriffen wird.

In Ländern wie Finnland, Dänemark oder Estland stehen den Menschen alle Behördengänge online zur Verfügung. Wann sind wir in Deutschland so weit?

Ich hoffe, dass wir in dieser Legislaturperiode bei der Digitalisierung einen großen Schritt nach vorn machen werden. Aber dass wir in den nächsten vier Jahren wirklich alle Verwaltungsvorgänge bequem online erledigen können, halte ich für sehr unwahrscheinlich.

Was kann Deutschland sonst noch von anderen Ländern lernen?

Eine große Erleichterung wäre die Einführung des sogenannten Once-Only-Prinzips. Es bedeutet, dass Bürger und Unternehmen ihre Daten und Nachweise nur noch ein einziges Mal abgeben müssen. Im Anschluss werden die Daten zwischen verschiedenen Abteilungen oder Behörden digital ausgetauscht. Da können wir uns Österreich als Vorbild nehmen. Wir sollten zudem nach Skandinavien und Großbritannien schauen, dort herrscht in der Verwaltung ein gesunder Pragmatismus. Hierzulande fokussieren wir uns immer fast ausschließlich auf Regeltreue und darauf, dass rechtlich auch alles korrekt abläuft. Wenn wir uns den bürokratischen Fesseln entledigen wollen, brauchen wir auch einen Wandel in der Verwaltungskultur.