Nach einer Reise durch die Region Charkiw berichtet Christian Schneider, Geschäftsführer von Unicef Deutschland, von seinen Begegnungen mit Kindern und Jugendlichen im Krieg.
Unicef-Chef im Interview„Kinder in der Ukraine zeigen unglaubliche Stärke“
Herr Schneider, Sie sind fünf Tage lang durch die Region Charkiw gereist, haben mit Kindern, Eltern, Lehrkräften, Erzieherinnen und Erziehern gesprochen. Gibt es eine Begegnung, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Für mich war der Besuch in einer Metro-Schule in Charkiw besonders symbolisch für den Versuch, inmitten des Krieges und unter teils gefährlichen, für Kinder auf jeden Fall furchtbaren Bedingungen, weiter Normalität zu schaffen. Auch: Orte für Kindheit zu schaffen. Zu erleben, wie die Kinder – obwohl unten die U-Bahn reinrollt und über der Erde gerade wieder Luftalarm ist, ganz konzentriert und mit großer Freude lernen können: Das war für mich etwas ganz Besonderes, was mir gezeigt hat, dass es möglich ist, Kinder selbst für solche Situationen zu stärken – und wie wichtig es ist, ihnen solche Orte zu geben.
Wie viele Kinder profitieren von diesen U-Bahn-Schulen?
Die überwiegende Zahl der Kinder hat digitalen Unterricht. Aber gibt eben auch viele, die keinen Zugang dazu haben, weil ihnen zum Beispiel Endgeräte fehlen. Wir erreichen im Moment mit dieser Form des analogen Unterrichts gut 1 700 Kinder in Charkiw. Es sind die einzigen Kinder, die im Moment in eine richtige Schule gehen, die aber eben in einer U-Bahn-Station stattfindet.
Worum sorgen Sie sich mehr – um die unmittelbare Sicherheit der Kinder oder um die seelischen Schäden, die sie aus dem Krieg mitnehmen?
Kurzfristig haben wir ganz viel damit zu tun, dass wir das Überleben der Kinder, auch das Überstehen des nächsten Kriegswinters, sichern müssen. Wir haben in der Nähe der Frontlinie Familien besucht, die in den zurückliegenden mehr als 600 Tagen und Nächten immer wieder Angriffe erlebt haben, mehrfach auf der Flucht waren und jetzt unter sehr, sehr schwierigen Lebensbedingungen ausharren. Da geht es darum, jetzt für Wärme zu sorgen, Winterkleidung bereitzustellen oder auch mit kleinen Bargeldhilfen zu unterstützen. Die Mütter – meist sind es ja Mütter – wissen selbst am besten, was die Kinder brauchen. Das ist die eine Seite.
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Gleichzeitig muss man sehen, dass sicherlich kein Kind in der Ukraine, ganz gleich, wo es lebt, diesem Krieg in dieser langen Zeit entkommen konnte und dass wir mittlerweile viele Kinder haben, bei denen Unicef die große Sorge hat, dass sie weitergehende, auch bleibende psychische Folgen dieses Krieges davontragen werden. Wir haben mit Sozialarbeiterinnen und Psychologinnen gesprochen, die von Symptomen wie Albträumen, Angstzuständen, auch ständigem Bettnässen berichtet haben, bis hin zu Depressionen bei den Jugendlichen. Immer wieder auch Suizidgedanken.
Es gibt eine große Gruppe von Jugendlichen – Unicef fürchtet, dass es bis zu anderthalb Millionen Kinder und Jugendliche sein könnten – , die dringend psychologische Unterstützung brauchen, weil der Krieg ihnen so sehr zugesetzt hat. Das ist neben dem, was unmittelbar lebensrettend ist, genauso wichtig.
Der Krieg hält noch immer an. Wie lässt sich die Psyche besonders betroffener Kinder und Jugendliche trotzdem stärken?
Über die Schulen hinaus haben wir zum Beispiel„Spilno-Orte“ erschaffen; „Spilno“ steht für „zusammen“. Hier erleben Kinder Momente geschützter Kindheit. Ich habe miterlebt, wie in Charkiw zehnmal der Luftalarm schrillte und in einem kleinen Kinderzentrum die Kinder total konzentriert an Videos getüftelt haben, es gab eine kleine DJ-Ausbildung, die Kinder haben Rap-Songs aufgenommen, und es gab zum Beispiel eine Therapie mit Hunden. Man konnte richtig spüren konnte, wie total verängstigte Kinder in Zusammenarbeit mit einer Hundetherapeutin für eine Zeit vieles hinter sich lassen und vergessen konnten.
In vielen Familien gab es Verwandtschaften über die ukrainisch-russische Grenze hinweg. Erschwert diese Konstellation den Krieg für die Kinder zusätzlich?
Das kann ich schlecht sagen. Ich habe eher erlebt, wie den Kindern – und ihren Eltern genauso – die ständige Bedrohungssituation zusetzt. Wir haben von Eltern gehört, die ihre Kinder über Wochen, manchmal über Monate nicht mehr aus dem Schutzkeller gelassen haben, weil sie so große Angst haben.
Das heißt, sie sind wirklich die ganze Zeit im Keller und haben kein Tageslicht?
Sie sind zumindest die meiste Zeit im Keller. Das hat uns vor allem eine Erzieherin erzählt, die in einem Schutzkeller einen Kindergarten betreiben kann. Dieses Gefühl ständiger Bedrohung setzt den Kindern zu. Wir haben mit einer Mutter gesprochen, die für mich sinnbildlich steht für das Schicksal der Menschen im Osten der Ukraine. Sie hat eine sechsjährige Tochter und einen zehnjährigen Sohn. Ihren Mann hat sie durch den Krieg verloren. Sie hat in dem frontnahen Ort ausgehalten, wollte nicht fliehen, und hat jetzt zwei Kinder, von denen sie berichtete, dass sie ständig Albträume haben, dass sie sie nachts immer wieder beruhigen muss, dass die Kinder ins Bett nässen. Sie hat deswegen auch schon mit Psychologinnen gesprochen, die ihr versichert haben, dass das auch wieder vorüberzieht – aber natürlich ist sie total besorgt.
Mit Blick auf die Nachkriegsgeneration wurde intensiv dazu geforscht, was Krieg mit Kindern macht und wie eine Generation von Kriegskindern ein Land prägt. Nun wächstin Europa wieder eine Generation von Kriegskindern heran. Was bedeutet das für die Zukunft?
Ich glaube, wir müssen davon ausgehen, dass die, die heute in der Ukraine Kinder oder Jugendliche sind, diesen Krieg nie ganz abschütteln können. Man kann aber durch die gezielte Hilfe, durch rechtzeitige psychologische Unterstützung und vor allem aber durch die Normalität, wenn die Familien wieder zusammen leben und die Kinder wieder geschützt zur Schule gehen können, sehr viel Stärke geben. Wir haben das erlebt auf der letzten Station in Dnipro, wo wir mit Jugendlichen gesprochen haben, die sich unter den Bedingungen des Krieges Sozialprojekte für ihre Gleichaltrigen ausdenken. Von vieren, mit denen ich gesprochen habe, waren drei im Land selbst vertrieben, mussten also mehrmals aufgrund der Kämpfe fliehen. Trotzdem waren diese Jugendlichen so optimistisch und begeistert von ihrem Projekt; von der Möglichkeit, etwas zu gestalten. Das zeigt mir, wie wichtig es ist, in solche Sozialprojekte für Jugendliche zu investieren, damit sie weiter eine Perspektive haben und nach vorne schauen können. Wenn das nicht gegeben ist, dann kommen Faktoren wie Depressionen bis hin zu noch düsteren Gedanken bei den jungen Leuten auf.
Wissen Sie auch etwas über das Schicksal der ukrainischen Kinder, die nach Russland verschleppt wurden?
Wir bei Unicef sind zutiefst besorgt über das Wohl dieser Kinder, können die Berichte jedoch nicht unabhängig verifizieren, da wir keinen Zugang zu den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten in der Ukraine und auch nicht zu russischen Gebieten haben. Unser Team arbeitet mit der ukrainischen Regierung zusammen, um Kinder, die in die Ukraine zurückkehren, mit Maßnahmen zu ihrem Schutz zu unterstützen, beispielsweise durch psychologische Betreuung.
Wie geht es eigentlich den russischen Kindern in Russland? Sie erleben, dass Väter und andere Angehörige im Krieg sind oder auch fallen.
Die Sorge von Unicef gilt jedem Kind. Wir haben hier die Herausforderung, dass wir über die Situation in Russland, da wir dort nicht tätig sind, im Moment keine genaueren Informationen haben. Das heißt, über die Art und Weise, wie Kinder dort betroffen sind – sicherlich auch durch den Verlust von Angehörigen – kann ich nur mutmaßen. Aber Sie haben Recht mit der Frage, dass auch dort Kinder diesen Krieg erleben, beispielsweise durch den Verlust und die Gefahren für ihre Angehörigen, ihre Väter – oder indem sie den Krieg als Gefahr und Bedrohung insgesamt wahrnehmen.
Das gilt im Übrigen auch für die Kinder, die noch weiter entfernt sind; bei uns im eigenen Land. Auch hier müssen wir schauen, dass Eltern, Erzieher und Erzieherinnen, Lehrer und Lehrerinnen unterstützt werden, um Kindern hier in Deutschland immer wieder zu erklären, was in einem Krieg passiert, sie auch in den Bildern und Nachrichten, die sie wahrnehmen, auffangen. Das finde ich sehr wichtig. Es gibt sehr gute Handreichungen von Kinder- und Jugendpsychologinnen, die wir auch auf der Unicef-Website aufbereitet haben, wie man die Nachrichtenflut aus Kriegsgebieten mit Kindern gemeinsam erarbeiten und verarbeiten kann.
Sie sagen, Sie haben die Kinder auch beeindruckend fröhlich erlebt. Ganz persönlich: Überwiegt dieser Eindruck oder die Sorge vor den Folgen, die der Krieg für die Kinder hat?
Ich bin tatsächlich hin- und hergerissen. Wir haben dieses Mal sehr frontnahe Orte bis etwa 50 Kilometer in der Nähe des aktuellen Frontverlaufes besucht, und da ist es schon das Bild einer düsteren Wolke, die über allem schwebt, die vor allem über den Kindern und Jugendlichen schwebt. Eine sehr harte Situation, eigentlich immer mit einem Bein auf der Flucht vor den Angriffen und den Kämpfen. Aber gleichzeitig: Sobald es die geschützten Angebote für Kinder gibt – das mag in einer U-Bahn-Station sein oder in einem Luftschutzkeller – dann zeigen Kinder diese Stärke, alles um sich herum zu vergessen und auch wieder Kind zu sein, ganz fröhlich zu sein, herumzutoben. Das zeigt sich auch noch bei den etwas Älteren. Ich erinnere mich an eine 16-Jährige, mit der wir gesprochen haben. Wenn Jugendliche wie sie die Gelegenheit bekommen, von ihren Plänen und Träumen zu erzählen, dann geht es nicht mehr um den Krieg, sondern in ihrem Fall um die Frage, ob sie IT oder die Schauspielschule als Ausbildung wählt.
Sie haben selbst Kinder. Wie stecken Sie es weg, Kinder in solchen Notsituationen zu erleben?
Das ist eine gute Frage. Ich glaube, bei all der Bedrohung und Gefahr, die wir da jetzt konkret in der Ukraine für die Kinder gesehen und miterlebt haben, weil wir ja den Luftalarm auch selbst wahrgenommen haben, sind es eigentlich diese fröhlichen, unbeschwerten Momente von Kindheit, die mir wieder den Optimismus und die Kraft geben. Weil es einfach unglaublich ist, wenn wir ein Kinderzentrum besuchen, in dem Kinder Dinge gestalten, Kunstwerke schaffen, sich ungeachtet aller Bedrohung total darin versenken können, einen Haarreif mit Blümchen zu dekorieren: Das zeigt mir, dass in der düstersten Grausamkeit eines Krieges, dessen Folgen für uns hier unvorstellbar sind, Kinder immer noch Kinder sein können. Dann ist klar, dass sich jede Anstrengung für jedes dieser Kinder lohnt. Das treibt auch unser Team in der Ukraine an. Sie sind ja überwiegend einheimische Kräfte, die selbst erleben, dass ein Teil ihrer Familie auf der Flucht ist. Manche haben Angehörige verloren. Aber sie sind angetrieben davon, diese Möglichkeiten für Kinder zu schaffen. Das mitzuerleben, das ist stark.
Machen Sie sich Sorgen, dass die Nöte der ukrainischen Kinder durch den Krieg in Nahost verdrängt werden?
Mir macht sehr viel Sorge, dass wir so viele Situationen im Moment haben, in denen Kinder unter Gewalt, Konflikt- und Kriegssituation leiden. Dazu gehört die Gewalt, die die Kinder in Israel erfahren haben, dazu gehört das, was im Moment in Gaza Kindern widerfährt, aber auch viele andere Kriegs- und Konfliktsituationen. Ich denke an den Sudan, an den Jemen. Es ist die Aufgabe von Unicef, dort überall hinzuschauen und für die Kinder im Einsatz zu sein. Gleichzeitig ist es sicherlich so, dass die noch immer riesige Situation in der Ukraine im Moment ein wenig im Schatten steht. Deswegen haben wir es auch als unsere Aufgabe angesehen, vor diesem sicher wieder sehr heftigen Winter in der Ukraine noch einmal Licht darauf zu werfen.
Klassenzimmer am U-Bahn-Gleis
In Charkiw leben etwa 1,3 Millionen Menschen. Die meisten Schulen der Millionenstadt sind aufgrund der ständigen Angriffe beschädigt oder zerstört sind. Die Jungen und Mädchen erleben deswegen fast keinen Präsenzunterricht mehr. Die Schule ist in den digitalen Raum verlagert. Es haben aber nicht alle ukrainischen Schülerinnen und Schüler ein Smartphone, Tablet oder anderes Endgerät zur Verfügung. Außerdem können Online-Begegnungen die Begegnung mit Klassenkameraden und -kameradinnen nicht ersetzen, sagt Christan Schneider.
Zusammen mit den ukrainischen Behörden hat Unicef in fünf Metrostationen Klassenräume eingerichtet. In insgesamt 76 Klassen werden Schülerinnen und Schüler von der ersten bis zur elften Klasse unterrichtet. Besonders im Osten und Süden der Ukraine ist die Lage für Zivilisten immer wieder gefährlich – und das auch für die Kleinsten: Eine Kita, die Unicef besuchte, ist in einem Luftschutzbunker untergebracht.