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Vor 80 JahrenZeitzeuge aus dem Zweiten Weltkrieg berichtet über seinen Kampf in der Ukraine

Lesezeit 5 Minuten
Als Soldat in der Marine erlebte Gustav Dünhölter den Zweiten Weltkrieg – er hatte sich mit 17 Jahren freiwillig gemeldet.

Als Soldat in der Marine erlebte Gustav Dünhölter den Zweiten Weltkrieg – er hatte sich mit 17 Jahren freiwillig gemeldet.

Vor 80 Jahren war er auf der Krim stationiert: Der heute 99-jährige Gustav Dünhölter gehört zu den letzten Zeitzeugen, die als Soldaten der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine kämpften. Was er erlebte – und wie er heute auf den aktuellen Krieg dort blickt.

Einst stand Gustav Dünhölter auf jenem Grund in der Ukraine, auf dem heute wieder gekämpft wird. Mehr als 80 Jahre ist das her. Lange hatte er die Erlebnisse aus seiner Jugend als Marinesoldat in seinem Gedächtnis begraben – bis der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine seine Erinnerungen wieder hochspülte.

Schwarz-Weiß-Fotos liegen auf dem Tisch im niedersächsischen Dissen neben dem   rot-geblümten Porzellanservice. Ein junger Mann blickt ernst in die Kamera, ohne den verschmitzten Zug um Augenbrauen und Mundwinkel ganz verbergen zu können. Den erkennt man heute noch, wenn man den 99-Jährigen Gustav Dünhölter betrachtet. Seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg vermochten es nicht, ihm den jungenhaften Ausdruck aus dem Gesicht zu wischen.

Gerade einmal 17 Jahre alt war Dünhölter, als er sich freiwillig zum Wehrdienst meldete. Zur Marine wollte er: „Das war mein Wunsch, seit ich 1939 auf einer Fahrt nach Helgoland mit der Seefahrt in Berührung kam.“ Damals habe er hinter dem Regime gestanden. Was auch sonst? „Ich gehörte zur Generation der Verführten“, so beschreibt er es. „Wir wurden gezielt vom System verleitet, wurden durch die Hitlerjugend vormilitärisch ausgebildet, ohne es zu wissen.“ Erzogen zum bedingungslosen Gehorsam.

Weltanschauung gerät ins Wanken

Lange habe er nichts hinterfragt, sagt Dünhölter, der wie Millionen andere auch für den „Führer“ in den Krieg zog. „Es ging darum: Du oder ich. Da fragt man nicht, warum – ich stand dort, weil das Gesetz es befahl.“ Im Frühjahr 1944 aber, geriet seine Weltanschauung ins Wanken. Dünhölter war in Sewastopol stationiert, der größten Stadt auf der Halbinsel Krim, die damals zur Sowjetunion gehörte. Als Teil der 3. Minenräumflottille hatte er organisatorische Aufgaben, war dafür zuständig, die deutschen Schiffe mit Dingen des täglichen Bedarfs auszustatten. Stalingrad war längst gefallen, die deutschen Truppen durch die Rote Armee weit gen Westen zurückgedrängt. Nur die Stellung auf der Krim konnte die Wehrmacht halten. „Da sagte der Wehrbericht, die deutsche Luftwaffe beherrsche den Luftraum. Ich war ja da und habe kein deutsches Flugzeug gesehen. Im Gegenteil: der Russe kam da an“, erinnert sich Dünhölter.

Bis zu diesem Zeitpunkt war der Sieg Deutschlands für ihn eine Gewissheit, an der es nichts zu rütteln gab. Doch da habe es bei ihm „Klack“ gemacht: „Moment, wir werden verarscht, von vorne bis hinten. Jetzt siehst du, dass du mit heiler Haut hier rauskommst.“ Nachdem die Sowjets auch die letzten Stellungen der Deutschen durchbrachen, zog sich Dünhölters Einheit zurück. „Wir haben die Krim geräumt und mussten Geleit fahren für die Transporter der Soldaten, die noch das Glück hatten, die Küste zu erreichen“, erinnert er sich.

Eigentlich wollten sie durch den Bosporus fliehen, doch die Türkei ließ niemanden hindurch – aus Angst, es sich mit der Sowjetunion zu verscherzen. So ging es nach Warna in Bulgarien. Dort erhielten er und seine Kameraden den Marschbefehl: Zu Fuß sollten sie sich bis nach Linz an der Donau durchschlagen. Durch ganz Jugoslawien führte ihr Weg. Ohne Verpflegung, mit nichts als dem, was sie am Leib trugen. „Wovon haben wir gelebt: von Weintrauben, jeden Tag. Seit der Zeit habe ich, ach, bestimmt 20 Jahre lang keine Weintrauben mehr angepackt. Ich mochte keine mehr.“Es sei eine „schlimme Zeit“ gewesen, erinnert sich der Veteran: der lange Weg durch unbekanntes Gelände, immer auf der Hut vor Angriffen möglicher Widerstandskämpfer. Irgendwo im heutigen Serbien erlebte er einen Tieffliegerangriff mit: „Es war herrliches Wetter, und meine Uniform stand vor Dreck. Ich sagte mir: Mensch, gehst in die Morava (ein Fluss, Anm. d. Red.), ziehst dich aus und wäschst die Uniform ein bisschen durch.“ In dem Moment kamen zwei Flugzeuge angeschossen.

Das Leben musste weitergehen

Wenige Meter vor ihm wurde das Wasser von Kugeln aufgepeitscht, doch er blieb unversehrt. „Wie ich mich dann angezogen hatte und wieder zu den Kollegen kam, sah ich das Dilemma.“ Während er von den Geschossen verfehlt wurde, hatten einige seiner Kameraden nicht so viel Glück. „Dann kam ein Feldgeistlicher und hielt eine Predigt“, so Dünhölter. Nie wieder habe er einen so ergreifenden Gottesdienst erlebt wie dort, auf dem felsigen Boden Jugoslawiens. „Die Kollegen wurden begraben und anschließend war man nicht traurig. Das hat man alles weggesteckt“, erklärt er. Auch nach dem Krieg haben seine Erinnerungen ihn nicht eingeholt. Das Leben musste weitergehen.

Heute kann Dünhölter sich kaum noch erklären, wie er diese Zeit durchgestanden hat und wie er sie so lange vergessen konnte – bis der erneute Krieg die Erinnerungen zurückbrachte. Es sind dieselben Schlachtfelder, dieselbe Umgebung, und der Senior weiß um ihre bis heute geltende Bedeutung: „Wer die Krim hat, beherrscht das Schwarze Meer! Die ist für Russland strategisch so wichtig, dass Putin darauf nicht verzichten wird. Da kann der Westen sich auf den Kopf stellen und noch so viel unternehmen“, ist der 99-Jährige überzeugt. Inzwischen seien die Waffen noch viel schlimmer als damals, so Dünhölter. „So viele Verletzte und Tote – da fragt man sich, muss das sein? Kann man sich nicht an einen Tisch setzen und die Differenzen, die da sind, ausräumen? Nur keinen Krieg mehr“, wünscht sich der Veteran.