Russlands Angriff auf ihr Land vor mehr als eineinhalb Jahren hat bei der ukrainischen Bevölkerung tiefe Spuren hinterlassen.
Nach eineinhalb Jahren KriegWie es den Menschen in der Ukraine ergeht
Manche leiden still, andere lassen ihrem Zorn freien Lauf: Der russische Angriff auf die Ukraine hat viele Menschen in dem Land tief erschüttert. Russland ist ein Feindbild auch bei denen, die jahrzehntelang eine Kultur des Zusammenlebens pflegten oder gar russische Wurzeln haben. Eindrücke vom Leben im Krieg.
Switlana (61) und Wassyl (70) ernten in Rostuschtsche bei Saporischschja am Rande einer Eisenbahnstrecke ihre Möhren. Das Gemüse liegt schon in Reihen am Boden bereit, nun wird noch Unkraut gejätet. „Eigentlich hat sich wenig geändert“, sagt Switlana – und bricht nur einen Satz später in Tränen aus. Ihre zwei Söhne sind in der ukrainischen Armee und können sich nur noch in Kampfpausen melden. Immerhin: Die Enkelin ist in Deutschland in Sicherheit und wohnt nun in Offenburg. Aber die Sorgen um die Söhne drücken schwer. Dabei sei ihr eigener Vater Russe gewesen, sagt Switlana. „Wir hätten nie gedacht, dass es zu diesem Krieg kommt.“
Pawlo ist Arzt im Militärkrankenhaus Saporischschja. Der 30-Jährige wirkt müde, ihm ist anzumerken, wie sehr ihm der Krieg in die Knochen gefahren ist. „Das ist sehr belastend. Ich sehe, wie der Krieg die goldene Jugend stiehlt – die Klügsten, die Mutigsten“, sagt er. „Es sind genau die, die für den Fortschritt des Landes gebraucht werden.“ Vor einem Jahr sei er aus dem besetzten Donezk-Gebiet geflohen und habe sich dem Zugriff russischer Soldaten nach fünf Monaten entzogen. Am 27. Februar – „das war ein Sonntag“ – hätten sie seine Kleinstadt eingenommen, erst autoritär, dann immer brutaler. Sein Chef sei verschleppt worden und nach einer Woche schwer misshandelt in einem anderen Krankenhaus aufgetaucht. Und dann die schlimme Versorgungslage: Er selbst habe zum Schluss nur noch mit Draht aus einem Computer den Kieferbruch einer Frau fixieren können. Das Röntgenbild trägt er auf seinem Mobiltelefon mit sich. Die Flucht sei schließlich nur durch eine Leidenschaft möglich geworden: Auf dem Motorrad habe er fünf Kontrollpunkte passiert und sei dann über das Frontgebiet hinweg nach Westen gefahren, wo er sich freiwillig zum Militärdienst gemeldet habe.
Oresta Brit organisiert mit ihrer Hilfsorganisation BON („Wohltätigkeitsvereinigung der Nationen“) in Kiew Unterstützung des Militärs mit Ausrüstung und soziale Dienste für die Bevölkerung. Wie Ausstellungsstücke und mit gewissem Stolz sind Munitionshülsen und Waffenkisten in allen freien Ecken drapiert. Für die Streitkräfte werden Drohnen und sogenannte Jammer – also Störsender – beschafft. Sie will aber die zivile Hilfe verstärken und hofft auf internationale Hilfe.
Die junge Frau – sie hatte als frühere Miss Kiew ein Auslandsstudium in Frankreich gewonnen – kann sehr resolut reden. Aber wie lange reicht die Kraft für den Krieg? „Das hängt vom Ziel ab. Mein Ziel ist der Sieg. Wenn ich sehe, dass wir noch weit von einem Sieg entfernt sind, wie kann ich dann müde werden?“
Das Einweckglas mit weißem Papier gefüllt am Straßenrand ist das Zeichen: Es gibt frische Milch. Zumal die an einem Pflock festgebundene Kuh gleich daneben grast.
Soja (65), Einwohnerin des südukrainischen Dorfes Nowoolexandriwka will ein paar Hrywnja, wie die Landeswährung heißt, verdienen. Umgerechnet 1,50 Euro kosten die zwei Liter praktisch ab Euter. Die Front ist etwa 20 Kilometer entfernt. „Wir hören Explosionsgeräusche und auch Tiefflieger sind schon über uns geflogen“, sagt sie. In der Nachbarortschaft ist gar vor einiger Zeit eine Rakete eingeschlagen. Wie fast alle im Dorf schlafe sie schlecht. Morgens um 6 Uhr höre sie die Nachrichten ab. „Nachdem die Kriegsverbrechen bekannt geworden sind, will niemand mehr mit den Russen leben“, sagt sie. „Niemand hier wird sich beugen.“
Jewhen Orlow hat der Kriegsausbruch in Mariupol überrascht, wie er sagt. Da habe er als Direktor eines tschechischen Unternehmens eine Stahlfabrik modernisiert. Erst am 30. März habe er in der umkämpften Stadt ein Auto knacken können und sei auf Felgen ohne Reifen aus der Stadt gefahren. „Ich habe eine wilde Jugend gehabt und bin auf meine Fähigkeiten ein bisschen stolz“, sagt er. Er trägt ein Bild seines Sohnes, der als ukrainischer Soldat gefallen sei, bei sich auf dem Handy. Und auch ein Bild, das ihn selbst neben einem tarngrün lackierten Pritschenwagen in Uniform und mit Sturmgewehr zeigt. Er habe seinen Sohn „gerächt“, sagt er. „Ich hatte vorher ein gutes Verhältnis zu Russen und selbst die Annexion der Krim hat daran nichts geändert. Es gab so ein Gefühl: Die Krim gehört zu Russland.“ Der Krieg jetzt habe für ihn alles geändert. „Ich hasse die Russen bis aufs Blut.“ (dpa)