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„Wir verlieren die Hoffnung“Wie die Überlebenden der Türkei-Beben zunehmend verzweifeln

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PRODUKTION - 19.07.2023, Türkei, Antakya: Trümmer liegen in der Altstadt, wo das Erdbeben vor fast sechs Monaten schwere Schäden anrichtete.

Antakya: Trümmer liegen in der Altstadt, wo das Erdbeben vor fast sechs Monaten schwere Schäden anrichtete.

Ein halbes Jahr ist nach der Katatrophe Türkei vergangen. Die Menschen kämpfen weiter mit den Folgen. Erdogans Regierung steht in der Kritik und einige bereicherten sich an der Krise.

Ein halbes Jahr ist seit der Erdbebenkatastrophe in der Türkei vom Februar vergangen, doch im Unglücksgebiet ist selbst das Notwendigste noch knapp. Wenn in der Provinz Hatay zwischen den Trümmern zerstörter Häuser ein Lastwagen mit Trinkwasser auftaucht, bilden sich sofort lange Schlangen von Wartenden. „Erst gestern habe ich einen Lkw gesehen, vor dem tausend Leute anstanden“, sagt der Arzt Sevdar Yilmaz. „Wir verlieren inzwischen die Hoffnung.“

Am 6. Februar stürzten zwei mächtige Erdstöße die rund 14 Millionen Bewohner einer Region von Adana am Mittelmeer bis ins 500 Kilometer weiter östlich gelegene Diyarbakir ins Unglück. Einer ersten Erschütterung um vier Uhr morgens mit der Stärke 7,8 folgte kurz nach Mittag ein weiterer Schlag der Stärke 7,7. Rund 52000 Menschen starben, 800000 Gebäude stürzten ein oder sind wegen schwerer Schäden unbewohnbar. Elf der 81 Provinzen der Türkei waren betroffen. Millionen Menschen wurden obdachlos und mussten in Zelten untergebracht werden. Hatay gehörte zu den am schwersten getroffenen Gebieten. Im benachbarten Syrien kamen mehr als 8000 Menschen ums Leben.

Bereicherung in der Krise

Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan reagierte zunächst planlos und langsam. Einige Staatsvertreter gerieten darüber hinaus in den Verdacht, sich bereichern zu wollen: Der Chef des türkischen Roten Halbmondes, Kerem Kinik, ließ Zelte an eine private Hilfsorganisation verkaufen, statt sie gratis an die Erdbebenopfer zu verteilen. Kinik wies alle Vorwürfe zurück, musste im Mai aber zurücktreten.

Inzwischen sind die Zeltstädte vielerorts festeren Container-Unterkünften gewichen. Die Zahl der Menschen, die in Zelten leben müssen, ist nach Angaben des Innenministeriums von 2,6 Millionen im April auf 32000 im Juni gesunken. Erdogan verspricht den Wiederaufbau der Region in Rekordzeit. Allein in Hatay läuft nach Behördenangaben der Bau von 31000 Wohnungen. Insgesamt sollen 650000 Gebäude im Katastrophengebiet neu gebaut werden, die Hälfte davon innerhalb eines Jahres.

Derman Demirkol (37) und ihr Sohn stehen vor einem Schiffscontainer im ‚Katar-Containerlager‘, in dem sie derzeit leben. Ihr Haus wurde bei dem Erdbeben vor fast sechs Monaten zerstört.

Derman Demirkol (37) und ihr Sohn stehen vor einem Schiffscontainer im 'Katar-Containerlager', in dem sie derzeit leben. Ihr Haus wurde bei dem Erdbeben vor fast sechs Monaten zerstört.

Doch in schwer getroffenen Gegenden wie Hatay sehen die Menschen kaum Fortschritte. In der Provinzhauptstadt Antakya, dem biblischen Antiochien, sind acht von zehn Wohnhäusern nicht mehr bewohnbar. In den Wochen nach dem Februar-Beben verließ jeder zweite der rund 200000 Bewohner die Stadt.

Ayfer Orukcu (2.v.r.) lebt mit ihrem Sohn (r), ihrer Mutter Nuriye und ihrem Bruder Aziz (l) in einem Zelt in der Nähe ihres alten Viertels.

Ayfer Orukcu (2.v.r.) lebt mit ihrem Sohn (r), ihrer Mutter Nuriye und ihrem Bruder Aziz (l) in einem Zelt in der Nähe ihres alten Viertels.

Bis heute konnte in Antakya keine stabile Trinkwasser-Versorgung aufgebaut werden, wie Sevdar Yilmaz kritisiert. Als Vorsitzender der Ärztekammer in Hatay erlebt er in der Sommerhitze von 40 Grad derzeit einen steilen Anstieg von Durchfallerkrankungen: eine Folge mangelnder Hygiene wegen des Wassermangels, wie er unserer Redaktion sagte. „Manche fallen in Ohnmacht, weil sie nicht genug trinken.“

Wasser ist vollkommen ungenießbar

Schon vor dem Beben hätten die Leute das Leitungswasser in Antakya vor dem Trinken filtern müssen – seit der Katastrophe sei es völlig ungenießbar, sagt Yilmaz. Auch Wasser für Dusche und Toilette fehlt häufig, an manchen Tagen kommt gar kein Wasser aus dem Hahn.

„Die Menschen werden deshalb per Lastwagen mit Trinkwasser in Plastikflaschen versorgt“, sagt Yilmaz.   Die Kapazitäten der Katastrophenschutzbehörde Afad, die das Wasser gratis verteilt, reichten nicht aus. „Wo hundert Lastwagen gebraucht würden, gibt es nur zehn. Außerdem gibt es wegen der vielen Plastikflaschen viel mehr Müll als vorher.“

Wer bei der Wasserausgabe am Lastwagen zu kurz kommt, kann zwar Wasser in Läden und Supermärkten kaufen. Aber das ist für viele Familien, die mit dem staatlichen Mindestlohn von 385 Euro im Monat auskommen müssen, sehr teuer, wie Yilmaz sagt. Die Stadtverwaltung hat kein Geld, um zerstörte Trinkwasserleitungen zu reparieren, und aus Ankara kommt längst nicht so viel an Unterstützung im Erdbebengebiet an, wie gebraucht würde: Der wirtschaftliche Gesamtschaden des Erdbebens beläuft sich auf mehr als 100 Milliarden Dollar.

Der Trinkwassermangel ist nicht das einzige lebensgefährliche Alltagsproblem in Hatay. Wie die Zeitung „Cumhuriyet“ aus der Provinz berichtete, werden beim Abriss beschädigter Gebäude häufig Stromleitungen zerstört, sodass stundenlang der Strom ausfällt. Bewohner von Notunterkünften berichten von Skorpionen und Schlangen in ihren Behausungen.

Die Erde bebt weiter

Mehr als eine Erstversorgung von Kranken oder Verletzten sei in Hatay derzeit nicht drin, weil die meisten Krankenhäuser geschlossen seien, sagt Ärztekammer-Chef Yilmaz. „Bei schweren Fällen schicken wir die Patienten per Krankenwagen ins nächste funktionierende Krankenhaus – das sind mindestens zwei Stunden Fahrt.“

Zudem bebt die Erde weiter. Zwei Wochen nach dem Februar-Beben wurde Hatay von einem Erdstoß der Stärke 6,4 erschüttert, vor einigen Tagen wurde ein Beben von 3,7 gemessen. Yilmaz sieht schwarz für seine Heimat. „Wir wissen nicht, was in ein paar Monaten sein wird“, sagt er. „Wir wollen in die Zukunft blicken, aber wir sehen keine Zukunft.“