Der türkische Präsident lässt im Mai wählen und beschuldigt nach dem Beben die Opposition. Experten sind jedoch skeptisch, dass Erdogan die Doppelwahl gewinnen kann.
Wahlen in der Türkei und ErdbebenfolgenWie Erdogan die Flucht nach vorne antritt
Angriff ist die beste Verteidigung, findet Recep Tayyip Erdogan. Nicht die Regierung, sondern die Opposition trage die Verantwortung für den Tod von 45000 Menschen bei der Erdbebenkatastrophe vom Februar, sagte der türkische Präsident am Mittwoch. Er strebt für den 14. Mai Präsidenten- und Parlamentswahlen an, bei denen „die Nation das Notwendige tun wird“, wie er vor der Parlamentsfraktion seiner Regierungspartei AKP sagte. Experten sind jedoch skeptisch, dass Erdogan die Doppelwahl gewinnen kann – vor allem, weil fast jeden Tag neue Skandale um tödlichen Pfusch am Bau und um Korruption bei Staatsinstitutionen wie dem Roten Halbmond ans Tageslicht kommen.
Spuren des Bebens sollen schnell verschwinden
Erdogans Wahlstrategie läuft darauf hinaus, mit dem raschen Abriss und Neubau hunderttausender zerstörter Häuser in den Unglücksprovinzen „die Spuren des Erdbebens in kurzer Zeit zu tilgen“, wie der Präsident sagte. Innerhalb eines Jahres sollen die neuen Häuser bezugsfertig sein. Kritik, seine Regierung habe vor schweren Baumängeln die Augen verschlossen, wehrt Erdogan ab, obwohl er seit 20 Jahren das Land regiert: Die Opposition habe staatliche Wohnungsbauprojekte zur Umsiedlung von Millionen Menschen aus den Innenstädten gerichtlich verhindert, sagte er am Mittwoch. Deshalb hätten viele Menschen in schlechten Gebäuden wohnen müssen. Kritiker werfen dem Präsidenten seit Jahren vor, mit den Bauprogrammen regierungsnahen Unternehmern zu Grundstücken in bester Lage zu verhelfen und dafür gewachsene Viertel zu zerstören.
Der Präsident zeichnete in seiner Rede am Mittwoch das Bild einer Regierung, die anfängliche Probleme bei der Erdbebenhilfe schnell in den Griff bekommen habe und die betroffenen Menschen jetzt mit voller Kraft unterstütze. Der Staat habe alle Kräfte gegen den „Erdbeben-Sturm“ mobilisiert, der über die Türkei fege. Auf die Vorwürfe der Opposition wolle er nicht eingehen, weil er seine ganze Zeit und Energie auf die Hilfe konzentriere, sagte er. Abgerechnet werde später.
Reue und Einsehen zeigt Erdogan nicht
Bei einem Besuch im Erdbebengebiet diese Woche hatte Erdogan die Betroffenen um Entschuldigung für die Verspätung bei der staatlichen Hilfe gebeten. Mehr Selbstkritik lässt er nicht erkennen. Geologen, Architekten und Bauingenieure hatten seit Jahren auf die vielen Baumängel in der jetzt verwüsteten Region hingewiesen, doch Erdogans Regierung ließ 2018 mit einer Amnestie tausende baufällige Gebäude für bewohnbar erklären. Nun gerät auch der staatliche Rote Halbmond unter Druck, weil er Zelte für Erdbebenopfer an eine private Hilfsorganisation verkaufte, statt sie kostenlos an Betroffene zu verteilen. Auch Blutspenden sollen vom Halbmond verkauft worden sein.
Erdogans Regierung reagiert nervös auf die Kritik. Nationalistenchef Devlet Bahceli, der Bündnispartner des Präsidenten, beschimpfte jetzt vor laufenden Kameras eine Gruppe von Erdbebenopfern in der verwüsteten Stadt Elbistan. „Jetzt ist hier Ruhe! Geht nach Hause“, fuhr er die Überlebenden an. Der prominente Erdbebenforscher Ahmet Ercan wurde vorübergehend festgenommen, weil er Verzögerungen beim Einsatz der Armee nach der Katastrophe kritisiert hatte.
Die Türken nähmen die Bitte des Staatschefs um Entschuldigung nicht an, sagt der Meinungsforscher Bekir Agirdir. Dafür sei zu viel an Wissenschaftsfeindlichkeit, Willkür und Systemfehlern im Präsidialsystem zutage getreten, sagte Agirdir der Nachrichtenplattform T24. Nach seiner Einschätzung dürfte das Regierungsbündnis aus Erdogans AKP und Bahcelis MHP bei der Parlamentswahl am 14. Mai seine Mehrheit in der Volksvertretung verlieren. Bei der gleichzeitigen Präsidentenwahl habe Erdogan allerdings noch eine Chance auf den Sieg.
Das liegt auch an der Opposition. Sie hat sich immer noch nicht auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten geeinigt, der in zweieinhalb Monaten gegen Erdogan antreten soll. Die Frage soll nun bei einem Treffen von sechs Oppositionsparteien am Donnerstag geklärt werden. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu und der Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavas, sind die aussichtsreichsten Aspiranten.