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Türkei in AufruhrÜber tausend Festnahmen bei heftigen Protesten gegen Imamoglu-Inhaftierung

Lesezeit 5 Minuten
23.03.2025, Türkei, Istanbul: Beamte der Bereitschaftspolizei stoßen mit Demonstranten zusammen.

Beamte der Bereitschaftspolizei stoßen mit Demonstranten zusammen, nachdem der Bürgermeister von Istanbul, Imamoglu, verhaftet und ins Gefängnis gesteckt wurde.

Für viele Türken ist Ekrem Imamoglu der Hoffnungsträger für einen politischen Wandel. Erneut protestierten Tausende gegen seine Festnahme. 

Bei den heftigsten Protesten gegen die türkische Regierung seit gut zehn Jahren sind mehr als tausend Menschen festgenommen worden. Seit Beginn der Demonstrationen gegen die Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters und Oppositionspolitikers Ekrem Imamoglu habe es 1133 Festnahmen gegeben, erklärte das Innenministerium am Montag. Für den Abend riefen die Unterstützer Imamoglus zu erneuten Protesten auf. Der wichtigste Rivale von Staatschef Recep Tayyip Erdogan wurde indes ungeachtet seiner Verhaftung von seiner linksnationalistischen Partei CHP zum Präsidentschaftskandidaten gekürt.

„1133 Verdächtige wurden zwischen dem 19. und 23. März 2025 wegen illegaler Aktivitäten festgenommen“, erklärte Innenminister Ali Yerlikaya im Onlinedienst X. Seit der Festnahme Imamoglus am vergangenen Mittwoch demonstrieren in Istanbul und anderen Städten jeden Abend zehntausende Menschen. Dabei kam es mehrfach zu Zusammenstößen mit der Polizei, die mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen gegen die Demonstranten vorging.

Größte Demonstrationen seit den Gezi-Protesten

Es sind die größten Demonstrationen seit den sogenannten Gezi-Protesten gegen die Regierung von Präsident Erdogan im Jahr 2013. Laut dem Innenministerium wurden bisher 123 Polizisten sowie eine unbestimmte Zahl von Demonstranten verletzt. Obwohl in den drei größten Städten des Landes ein Versammlungsverbot galt, versammelten sich Demonstrierende am Montag in Istanbul und Ankara bereits ab dem Mittag wieder zu Kundgebungen.

Der beliebte Oppositionspolitiker Imamoglu war am Mittwoch festgenommen worden. Am Sonntag ordnete ein Gericht wegen Vorwürfen der Korruption seine Inhaftierung an. Wenig später suspendierte ihn das Innenministerium von seinem Amt als Bürgermeister.

Imamoglus Partei CHP sprach von einem „politischen Staatsstreich“ und rief dazu auf, „weiterzukämpfen“. Der Oppositionspolitiker selbst gab sich kämpferisch. „Ich bin hier. Ich habe eine weiße Weste und sie werden mich nicht beschmutzen können. Ich werde keinen Zentimeter zurückweichen. Ich werde diesen Krieg gewinnen“, sagte Imamoglu in einer von seinen Anwälten übermittelten Botschaft.

Imamoglu trotz Verhaftung zum Präsidentschaftskandidaten gekürt

Trotz seiner Verhaftung wurde Imamoglu offiziell zum Präsidentschaftskandidaten seiner linksnationalistischen Partei CHP gekürt, wie ein Parteisprecher am Montag mitteilte. 15 Millionen Menschen stimmten demnach bei den Vorwahlen am Sonntag für den 53-Jährigen - dabei gingen auch viele Menschen für den Erdogan-Rivalen in die Wahllokale, die nicht Mitglied der CHP sind.

Imamoglu befindet sich seit Sonntag im Gefängnis von Silivri. Seine Inhaftierung wurde international mit scharfer Kritik aufgenommen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) beobachte die Entwicklung in der Türkei „mit großer Sorge“, erklärte in Berlin Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Die Verhaftung und Suspendierung des Bürgermeisters sei „absolut unakzeptabel, das muss jetzt sehr schnell und sehr transparent aufgeklärt werden“. Dem Auswärtigem Amt zufolge fand am Montagmorgen ein Gespräch mit dem türkischen Botschafter statt.

„Die jüngsten Entwicklungen sind ein schlechtes Zeichen für die Demokratie in der Türkei“, fuhr Hebestreit fort. Das gelte auch für die weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen dem Land und der EU. Zugleich sei die Türkei „eine wichtige Regionalmacht“ und ein Gesprächspartner, etwa mit Blick auf die Lage in der Ukraine. Auch in deutschen Städten kam es am Sonntagabend zu Protesten gegen Imamoglus Verhaftung. Allein in Berlin demonstrierten mehr als tausend Menschen, wie örtliche Medien berichteten.

Erdogan nennt Demonstrationen „Gewaltbewegung“

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat die weitestgehend friedlichen Proteste gegen die Inhaftierung des populären Oppositionspolitikers Ekrem Imamoglu als gewalttätig verurteilt. Die Ereignisse seien nach Protestaufrufen der Opposition „schnell in eine Gewaltbewegung umgeschlagen“, sagte Erdogan.

„Straßenterroristen“ würden die Polizei angreifen mit Steinen, Stöcken, Säuren und Äxten - und das störe die CHP nicht, sagte Erdogan in Richtung der Partei des Inhaftierten Imamoglus. Die werde dazu vor Gericht zur Rechenschaft gezogen.

Imamoglu war im Zusammenhang mit Korruptionsermittlungen am Sonntag verhaftet worden. Gegen ihn wird auch wegen Terrorvorwürfen ermittelt. Seine Partei sieht die Vorwürfe als Versuch Erdogans, einen politischen Rivalen auszuschalten und ruft zu friedlichem Protest auf. Am Abend hieß es auf dem X-Account Imamoglus: „Meine geliebten Sicherheitskräfte und Polizisten, bitte behandelt unser Volk gut.“ Auch heute Abend wird an zahlreichen Orten in der Türkei protestiert. Die Demonstrationen sind in Istanbul, Ankara und Izmir eigentlich verboten.

Deutsche Bundesregierung blickt mit Sorge in die Türkei

Die EU-Kommission forderte die Türkei am Montag auf, „die demokratischen Werte zu wahren“. „Wir wollen, dass die Türkei in Europa verankert bleibt, aber dies erfordert ein klares Bekenntnis zu demokratischen Normen und Praktiken“, sagte Kommissionssprecher Guillaume Mercier vor Journalisten. die Türkei ist Mitglied des Europarates und EU-Beitrittskandidat.

Griechenland äußerte sich besorgt angesichts der Lage im Nachbarland. Die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Freiheiten in der Türkei könne „nicht toleriert werden“, sagte Regierungssprecher Pavlos Marinakis. Ankara müsse „überzeugende Antworten (...) auf jeden angeblichen Verstoß gegen diese Grundsätze“ geben.

Imamoglu als Hoffnungsträger für einen politischen Wandel

Für viele Türken ist Imamoglu der Hoffnungsträger für einen politischen Wandel - und möglicherweise der nächste Präsident. Die nächste Präsidentschaftswahl in der Türkei steht 2028 an. Laut Verfassung darf Langzeit-Präsident Erdogan nicht wieder kandidieren. Der 71-Jährige strebt dennoch eine weitere Amtszeit an, die durch eine Verfassungsänderung ermöglicht werden könnte.

Bereits seit Jahren versucht Erdogan, den Aufstieg Imamoglus zu bremsen, indem er diesem immer wieder Steine in den Weg legen lässt. Kurz vor dem Termin der Nominierung des CHP-Präsidentschaftskandidaten erkannte die Universität Istanbul Imamoglu den Hochschulabschluss ab, der in der Türkei Voraussetzung für eine Präsidentschaftskandidatur ist. Nur einen Tag später wurde der Bürgermeister bei einer morgendlichen Razzia festgenommen.

Aktivisten meldeten am Montagmorgen auch die Festnahme von zehn Journalisten, darunter ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP. Die türkischen Staatsbürger seien im Morgengrauen aus ihren Wohnungen in Istanbul und Izmir abgeführt worden, teilte die türkische Menschenrechtsorganisation MLSA mit. (afp)