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Tür auf für EU-Beitritt?Die möglichen Konsequenzen einer Mitgliedschaft der Ukraine

Lesezeit 5 Minuten

Gekleidet in die ukrainischen Nationalfarben verkündete Ursula von der Leyen die Empfehlung der Kommission.

Brüssel/Kiew – Korruption auf höchster Ebene, Defizite bei Rechtsstaatlichkeit und schwerwiegende wirtschaftliche Probleme: Noch Anfang dieses Jahres schien es undenkbar, dass die Ukraine in absehbarer Zeit der EU angehören könnte.

Knapp vier Monate nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges ist die Welt nun eine ganz andere. Die EU-Kommission empfahl am Freitag, das Land offiziell zu einem Kandidaten für den Beitritt zur Staatengemeinschaft zu ernennen. „Die Ukraine verdient eine europäische Perspektive“, sagte Kommissionschefin Ursula in Brüssel.

Was bedeutet die Empfehlungder EU-Kommission?

Klares Ja der Deutschen

Eine künftige EU-Mitgliedschaft der Ukraine stößt in Deutschland auf breite Zustimmung. Im am Freitag veröffentlichten ZDF-„Politikbarometer“ sprachen sich 60 Prozent der Befragten dafür aus, 31 Prozent dagegen. Starke Zweifel gibt es aber, ob die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnen kann. Einen Sieg erwarten nur 26 Prozent. 64 Prozent glauben nicht daran.

Geteilt sind die Ansichten hinsichtlich der deutschen Ukraine-

Politik. 43 Prozent sagten, aus ihrer Sicht unterstütze Deutschland die Ukraine im richtigen Maße. Für 33 Prozent tut die Regierung zu wenig. Für 16 Prozent ist es bereits zu viel.

Eine Mehrheit von 54 Prozent ist dafür, dass die Nato zum Schutz ihrer östlichen Mitgliedsländer die Truppen dort deutlich verstärkt.

38 Prozent sprachen sich dagegen aus. Die Aufnahme von Finnland und Schweden in die Nato wird von 79 Prozent unterstützt. (afp)

Erst einmal nicht viel. Die Entscheidung über den Kandidatenstatus müssen letztlich die Regierungen der 27 EU-Staaten treffen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und seine Kolleginnen und Kollegen werden erst am kommenden Donnerstag bei einem Gipfel in Brüssel über das Thema beraten.

Wird es eine Einigung unterden Mitgliedsstaaten geben?

Das ist alles andere als sicher. Die Positionen lagen zuletzt weit auseinander. Polen, Estland, Litauen, Lettland oder Irland dringen seit Wochen darauf, die Ukraine zügig zum EU-Kandidaten zu machen und damit auch ein Zeichen gegen Russland zu setzen. Skeptisch waren bis zuletzt insbesondere Portugal, Dänemark und die Niederlande.

Was sind die Argumenteder Erweiterungsgegner?

Sie sind der Ansicht, dass die mehr als 40 Millionen Bürger zählende Ukraine bei weitem nicht die Voraussetzungen erfüllt, die Grundlage für einen erfolgreichen Start des Beitrittsprozesses sind. Zudem tun sich die 27 EU-Staaten bereits jetzt oft schwer, gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Länder wie Österreich fordern darüber hinaus, dass zeitgleich auch der Balkan-Staat Bosnien-Herzegowina den Kandidatenstatus bekommen muss.

Wie ist die Positionder Bundesregierung?

Bundeskanzler Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron kündigten am Donnerstag bei ihrem Besuch in Kiew Unterstützung für den Wunsch der Ukraine an, Beitrittskandidat zu werden. „Deutschland ist für eine positive Entscheidung zugunsten der Ukraine“, sagte Scholz.

Welche Bedingungen muss ein Land für den EU-Beitritt erfüllen?

Relevant sind vor allem die sogenannten Kopenhagener Kriterien, die 1993 festgelegt wurden. Zu ihnen gehören institutionelle Stabilität, eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck innerhalb der EU standzuhalten. Zudem müssen Kandidatenländer unter anderem das äußerst komplexe und umfassende EU-Recht anwenden können und gewährleisten, dass es wirksam durch die nationale Verwaltung und Justiz umgesetzt wird.

Wie schnell kann die Ukrainediese Voraussetzungen erfüllen?

Ein baldiger Beitritt ist äußerst unwahrscheinlich. Der Europäische Rechnungshof stellte dem Land noch im vergangenen September ein verheerendes Zeugnis aus. „Obwohl die Ukraine Unterstützung unterschiedlichster Art vonseiten der EU erhält, untergraben Oligarchen und Interessengruppen nach wie vor die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine und gefährden die Entwicklung des Landes“, hieß es damals. Es gebe zahlreiche Versuche, Gesetze zu umgehen und Reformen zu verwässern. Das System der strafrechtlichen Ermittlung und Strafverfolgung sowie der Anklageerhebung bei Korruptionsfällen auf höchster Ebene sei alles andere als gefestigt.

Hat die EU-Kommission Defizite und Bedenken einfach ignoriert?

Ignoriert wurden sie nicht, aber hinten angestellt. Die Empfehlung lautet, der Ukraine sofort den Kandidatenstatus zu geben. Lediglich der Start von Beitrittsverhandlungen soll an Reformauflagen geknüpft werden. Sie beziehen sich etwa auf das Justizwesen, die Wirtschaftsstruktur und die Bekämpfung oligarchischer Strukturen.

Ist der Kandidatenstatusmit Finanzhilfen verbunden?

Für die Beitrittskandidaten stellt die EU sogenannte Heranführungshilfen bereit: Geld aus dem EU-Haushalt, das etwa den Wandel der Gesellschaft, des Rechtssystems und der Wirtschaft unterstützen soll. Für den Zeitraum von 2021 bis 2027 sind 14,16 Milliarden Euro eingeplant. Einen Automatismus zwischen Kandidatenstatus und Finanzhilfe gibt es allerdings nicht. Sie müsste von der EU-Kommission gesondert empfohlen und dann von den Mitgliedstaaten beschlossen werden.

Wird ein Kandidat auf jeden Fall irgendwann EU-Mitglied?

Nein, der Kandidatenstatus sagt über einen Beitritt noch gar nichts aus und ist auch nicht mit einem Zeitplan verbunden. Beispiel Türkei: Das Land ist seit 1999 EU-Beitrittskandidat – und war wohl noch nie so weit von einer Mitgliedschaft entfernt wie heute. Relevant ist auch, dass jeder Schritt der Annäherung einstimmig von der EU-Staaten beschlossen werden muss.

Welche Rolle spielt der Kriegauf dem Weg in die EU?

Vermutlich eine zwiespältige. Auf der einen Seite hätte die Ukraine ohne den russischen Angriffskrieg wohl niemals so schnell die Chance auf den Kandidatenstatus bekommen. Auf der anderen Seite dürfte er die Bemühungen erschweren, die Reformauflagen für den Beginn der Beitrittsverhandlungen zu erfüllen. Zudem gilt als ausgeschlossen, dass die Ukraine vor dem Ende des Krieges EU-Mitglied werden kann. Als EU-Mitglied könnte Kiew dann nämlich nach Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrags militärischen Beistand einfordern – und die EU könnte offiziell Kriegspartei werden.

Was bedeutet der Status als EU-Kandidat für die Ukraine?

Die Annäherung an die EU hat für das Land im Krieg eine überragende Bedeutung gewonnen. Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärt sie immer wieder zu einer historischen Frage und betont, dass die Ukraine gegen Russland auch die EU und deren Werte verteidige. Die kalte Schulter der EU wäre wohl auch für die Moral der kämpfenden Ukrainer ein herber Rückschlag – und ein Glücksfall für Russlands Präsidenten Wladimir Putin. (dpa)