Totes Kind in Viersener KitaWieso versagten die Frühwarnsysteme?
- Die Erzieherin, die ein dreijähriges Mädchen in einer Kita in Viersen getötet haben soll, galt schon vorher las psychisch labil.
- Es verdichten sich die Anzeichen, dass ihr Verhalten schon früher hätte auffallen müssen.
Viersen – Unscheinbar sei sie gewesen, heißt es über Sandra M., der mutmaßlichen Mörderin der dreijährigen Greta. Im Bewerbungsgespräch für die Stelle als Erzieherin der Kita in Viersen, in der sie dem kleinen Mädchen beim Mittagsschlaf tödliche Verletzungen zugefügt haben soll, soll sie „angenehm zurückhaltend“ gewesen sein, wie ein Teilnehmer des Bewerbungsgesprächs berichtet. Sechs Bewerber seien damals da gewesen, drei seien genommen worden, eine von ihnen: Sandra M.
Gegen die Kita-Erzieherin wird nun wegen Mordverdachts ermittelt: Die dreijährige Greta war im April leblos aus einer Kita in Viersen in eine Klinik gebracht worden und dort gestorben. Bei ihren Ermittlungen sind die Behörden auf Auffälligkeiten in Kitas gestoßen, in denen die Frau vorher gearbeitet hatte. Auch in drei anderen Einrichtungen hatte jeweils ein Kind Atemprobleme – teilweise wohl auch mehrfach.
Ausbildung in Kempen
Die 25-Jährige hat ihre Ausbildung zur Erzieherin vom 1. August 2014 bis zum 31. Juli 2018 am Rhein-Maas Berufskolleg in Kempen absolviert. Zuvor, in der Zeit vom 1. August 2012 bis zum 31. Juli 2014, erwarb sie am Rhein-Maas Berufskolleg ihre Fachhochschulreife im Zweig Gesundheit und Soziales. In der Kita in Viersen hat sie vom 2. Januar bis 21. April 2020 gearbeitet. Dort soll sie von sich aus gekündigt haben.
Eine Frage drängt sich auf: Wie konnte es passieren, dass eine Erzieherin trotz schlechter Bewertung bei der Ausbildung, trotz der Vorfälle in drei früheren Kindergärten und trotz einer Anzeige in ei nem weiteren Sachverhalt weiterarbeiten konnte?
Ungewöhnliches Verhalten
Die Erzieherin fällt in den Jahren mehrfach durch ungewöhnliches Verhalten auf. So werden Ermittlungen wegen Vortäuschens einer Straftat gegen sie vor einem Jahr eingestellt – wegen geringer Schuld. Sie hatte im Mai 2019 behauptet, im Wald bei Geldern von einem Unbekannten mit einem Messer im Gesicht verletzt worden zu sein. Eine Rechtsmedizinerin hatte die Verletzung untersucht und nicht ausgeschlossen, dass die Frau sich diese selbst zugefügt haben könnte.
Ungereimtheiten in der Vernehmung bestätigten dann den Verdacht. Weil sie psychisch auffällig gewesen sei, habe die Polizei den Opferschutzbeauftragten hinzugezogen, der ihr umfassende psychologische Hilfe angeboten habe. Die Eltern der Frau seien anwesend und einverstanden gewesen. Ob die Frau in der Folge die Hilfe angenommen habe, gehe aus den Ermittlungsakten nicht hervor.
Einstellung des Verfahrens
Die Staatsanwaltschaft Kleve hatte das Verfahren da mals eingestellt. Wäre es zu einem Urteil gekommen, hätte das Ergebnis vermutlich im erweiterten Führungszeugnis der Erzieherin gestanden. Dieses Zeugnis gibt es genau für solche Fälle, um prüfen zu lassen, wie geeignet Menschen für Berufe wie Erzieher sind.
Greta starb durch schweren Hirnschaden
Todesursache: Greta starb an einem schweren Hirnschaden, verursacht durch Sauerstoffmangel. Die Rechtsmediziner fanden Spuren, die auf Gewalteinwirkung deuteten.
Obduktion: Die Art der Gewalt ließ sich nicht feststellen, zumal die Obduktion erst 14 Tage nach dem Tatgeschehen stattfand. Eine Strangulation wäre einem Notarzt nach Angaben der Staatsanwaltschaft Mönchengladbach direkt aufgefallen und wird deshalb ausgeschlossen.
„In das Bundeszentralregister (BZR) werden nur rechtskräftige Entscheidungen eingetragen“, sagt ein Sprecher des zuständigen Bundesamts für Justiz. „Erst, wenn aufgrund einer Anzeige ein Strafverfahren geführt wird und dieses zu einer rechtskräftigen Entscheidung führt, ist dies dem BZR mitzuteilen.“
Im Internet bot Sandra M. Betreuung jeder Art an – als Haushaltshilfe, für Jobs in der Nachbarschaft und sogar als Babysitter. Sie spielte Tennis und gab sich als Tierfreund.
Schlechte Noten
Immer wieder fiel sie mit schlechten Noten auf. Schon im Anerkennungsjahr in einer Krefelder Kita bekam die Erzieherin die Note „mangelhaft“. Es sei ihr nicht gelungen, eine empathische B eziehung zu den Kindern aufzubauen, hieß es im Bericht der Kita-Leiterin. Trotzdem konnte sie ihre Prüfung ablegen und wurde als Erzieherin zugelassen.
Man fragt sich: Wie kann das sein? „Wir nehmen wahr, dass die Fachschulen die Anforderungen unterschiedlich interpretieren“, sagt Klaus Bremen, NRW-Vorsitzender des Deutschen Kita-Verbands. Heißt im Klartext: Auch Erzieher mit schlechten Bewertungen werden zur Prüfung zugelassen.
Enormer Druck
„Auf den Schulen lastet Druck“, sagt Bremen. Es gebe immer mehr Kitas, dazu Erziehermangel, man müsse mehr Leute ausbilden. Manche Träger seien zudem in einer schlechten Ausgangsposition. „Nicht jede Kita kann sich erlauben, Menschen mit nicht so guten Noten abzuweisen“, sagt Bremen. Die Verantwortung sieht er bei der Politik.
„Man gibt Millionen für die Gebäude aus und schafft Stellen. Aber damit ist es nicht getan.“ Er wünscht sich mehr Investitionen für eine bessere Qualität beim Personal. Zeugnisse müssen nach dem Arbeitsrecht wohlwollend ausgestellt werden, sagt Klaus Bremen. Sie seien deswegen nur begrenzt aussagekräftig. Die Grenzen des Arbeitsrechts seien nachvollziehbar, sagt Bremen. „Aber wenn es um Berufe geht, in denen Menschen für andere Menschen Verantwortung tragen, müsste man das rechtlich anders regeln.“ Waltraud Weegmann, die Vorsitzende des Kita-Verbands, geht bei diesem Thema einen Schritt weiter. „Letztendlich sind alle Zeugnisse Makulatur“, sagte Weegmann dem WDR.
Geschultes Personal
Arbeitsrechtler Julius Reiter widerspricht entschieden. „Man kann schon eine unterdurchschnittliche Bewertung abgeben“, sagt der Anwalt. Wenn ein Arbeitgeber etwa schreibe „Er hat sich stets bemüht, pünktlich zur Arbeit zu kommen“, dann sei sofort klar, was gemeint sei. Ein geschulter Personaler werde sofort hellhörig. „Das Arbeitsrecht bietet in solchen Fällen genug Spielraum“, sagt Reiter.
Die Erzieherin hätte aber an ihrem A rbeitsplatz auffallen müssen, meint Bremen. „Es gibt die Probezeit von sechs Monaten“, sagt er. „Diese sechs Monate werden in Kitas in der Regel eng begleitet.“ Man arbeite in dieser Zeit eng mit neuen Erziehern zusammen, insbesondere mit jungen Berufsanfängern. Sie würden zum Beispiel einen „Buddy“ an die Seite gestellt bekommen, der die neuen Mitarbeiter fachlich, aber auch menschlich unterstütze. „Wenn sie eine Mord-Absicht gehabt haben sollte, muss sie sich gut getarnt haben.“ Durch die Einbindung in ein Kita-Team gebe es in den meisten Kitas Mechanismen, die gut geeignet seien, solche Fälle zu verhindern, betont Bremen. „Das ist wirklich ein Einzelfall.“
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Aber auch ein Einzelfall kann Schwächen im System offenbaren. „Der Gedanke ,Ich fülle in einen Trichter Geld und unten kommt Qualität raus‘, ist Quatsch“, sagt Bremen. Der Erfolg der Kitas dürfe nicht nur an der Zahl der Plätze gemessen werden, sondern auch an ihrer Qualität und an der Qualität des Personals. Dafür sei eine engere Zusammenarbeit mit den Jugendämtern nötig. „Es braucht in jedem Jugendamt ein paar neue Stellen, da muss es Kümmerer geben“, sagt er. Zudem brauche es Menschen, die dafür verantwortlich seien, die Qualität der Arbeit zu fördern und zu kontrollieren. (mit dpa)