Marburger-Bund-Chefin Susanne Johna ist selbst Krankenhausärztin. Sie sagt: Bevor die von Minister Karl Lauterbach angestrebte Reform der deutschen Kliniken gelingen kann, muss erst noch etwas ganz anderes erledigt werden.
Interview mit Chefin vom Marburger Bund„Jeder vierte Arzt an Kliniken erwägt aufzuhören“
Ist die Lage an den Kliniken wirklich so dramatisch, wie es derzeit scheint?
Ja. Die Mitgliederbefragung des Marburger Bundes hat im vergangenen Jahr noch einmal deutliche Verschlechterungen aufgedeckt. Jeder vierte der mehr als 8000 befragten Ärztinnen und Ärzte erwägt aufzuhören! Fast 30 Prozent halten ihre Arbeitssituation für schlecht oder sogar sehr schlecht. Die Überlastung ist so heftig, dass wir dringend strukturelle Veränderungen brauchen. Gut, dass die Regierungskommission von Gesundheitsminister Karl Lauterbach endlich Vorschläge präsentiert hat, aus denen nun eine große Reform werden muss.
Was steht gerade auf dem Spiel?
Die Gefahr ist sehr real, dass noch deutlich mehr Ärzte und Pflegekräfte ihren Dienst quittieren und für die Patientenversorgung verloren gehen, wenn sich nicht bald ganz viel ändert. Wir haben genug ausgebildetes Pflegepersonal, aber zu wenige arbeiten in ihrem Beruf. Der Anteil an Teilzeit steigt, um die Überlastung irgendwie zurückzufahren, auch bei Ärztinnen und Ärzten. Auch das ist ein Alarmsignal.
Warum immer mehr Stress, wo doch die Belegungsquote in den Krankenhäusern kontinuierlich sinkt?
Stimmt, es gibt Statistiken über eine gesunkene Belegungsrate trotz Kapazitätsabbau in den Kliniken. Das verborgene Problem dahinter: Die Zahl der statistisch erfassten Betten hat mit der Realität überhaupt nichts mehr zu tun. Denn für die Versorgung Kranker braucht es Ärzte und Pflegekräfte und nicht nur ein Bettgestell plus Matratze. Wir wissen aber schlicht nicht, wie viele Betten wir auf den Normalstationen in Deutschland haben, die wirklich mit Personal hinterlegt sind.
Wie kann das sein?
Wir haben derzeit keine verpflichtende Erfassung, aus der hervorgeht, wie viele Patienten die Kliniken tatsächlich behandeln können. Ich bin überzeugt, dass diese Zahl mindestens um ein Fünftel unter der nackten Bettenzahl liegt. Bevor wir also die große Reform in Angriff nehmen, braucht es Klarheit über die Ausgangslage. Dass zurzeit in den Kinderkliniken die Personaluntergrenzen für die Pflege de facto ausgesetzt wurden, belegt ja, dass das Personal vorne und hinten nicht reicht. Und bis Mitte der 30er Jahre wird sich der Pflege- und Ärztemangel durch das Ausscheiden der Babyboomer mit jedem Jahr weiter verschärfen, wenn wir nicht gegensteuern.
Zu Karl Lauterbachs Plänen gehört eine Verschiebung der Versorgung von Kliniken in die Praxen. Ambulant statt stationär: Löst das das Überlastungsproblem?
In der Theorie gibt es ein erhebliches Potenzial, Kliniken zu entlasten. So wurden 2021 in den Notaufnahmen gut zehn Millionen ambulante Patienten versorgt. Ein relevanter Teil von ihnen hätte auch von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten behandelt werden können. Allerdings sind auch sehr viele Praxen voll bis überfüllt. Wir brauchen also auch in diesem Bereich deutliche Verbesserungen.
Welche?
Bislang wird den Praxen die Behandlung zusätzlicher Patienten kaum vergütet. Ohne finanzielle Anreize wird es aber nicht gehen. Es braucht also eine Entbudgetierung im niedergelassenen Bereich, mindestens in der Grundversorgung, also bei Hausärzten, Kinder- und Jugendärzten sowie hausärztlichen Internisten. Dadurch würde auch die Möglichkeit geschaffen, dass solche Krankenhausärzte, denen gegen Ende ihres Arbeitslebens der Klinikalltag zu stressig wird, noch zwei, drei Tage in der ambulanten Versorgung arbeiten, denn es wird jede Hand gebraucht.
Lauterbach will jede Klinik in ein kompliziertes Leistungssystem einordnen. Ergibt das Sinn?
Grundsätzlich gehen die Pläne der Regierungskommission in die richtige Richtung. Der Marburger Bund selbst hat schon vor zweieinhalb Jahren ein gestuftes Krankenhaussystem vorgeschlagen. Schwierig wird es bei einigen Details. Die Idee etwa, in manchen Kliniken künftig ohne ärztliche Leitung auszukommen, ist fragwürdig.
Bedeutet die Einstufung nicht mehr statt weniger Bürokratie?
Tja, zunächst wird wohl eine zusätzliche Bürokratiewelle auf die Kliniken zurollen, denn jedes Haus muss ja in das komplexe Stufensystem eingeordnet werden. Ich wage zu bezweifeln, dass sowohl beim Medizinischen Dienst als auch in den Kliniken das Personal ausreicht, um das rasch zu leisten. Wir brauchen zumindest die klare Ansage, dass mit der überbordenden Kontrolle Schluss ist, sobald die bundesweite Einstufung aller Kliniken abgeschlossen ist. Dann müssen die Überprüfungslevel deutlich gesenkt werden.
Der Minister will auch an die Fallpauschalen ran…
Auch das sehen wir positiv, hoffen aber auf mehr Mut. Das Fallpauschalensystem hat zu verheerenden Fehlentwicklungen geführt und müsste deshalb komplett abgeschafft werden. Immerhin will Herr Lauterbach zumindest teilweise auf Vorhaltepauschalen umsteigen, das ist enorm wichtig, nun muss der Anteil aber noch deutlich erhöht werden. Wir fordern, die gesamten patientennahen Personalkosten aus den Fallpauschalen auszugliedern. Den Schritt gibt es nur für die Pflege, was, wie zu befürchten war, den Druck auf die Ärztinnen und Ärzte nochmal erhöht hat, weil die Kliniken jetzt bei ihnen einsparen und Stellen teils nicht neu besetzen.
Werden also die Krankenkassenbeiträge unweigerlich steigen?
Die Regierungskommission hat die Reform im Wesentlichen kostenneutral gerechnet. Durch die Einführung von Vorhaltepauschalen wird der Mengenanreiz erheblich gesenkt. Das ist sinnvoll und kann auch Geld einsparen. Wir wissen ja, dass es im deutschen Gesundheitssystem seit vielen Jahren in manchen Bereichen Überversorgung gibt, in anderen, allen voran in der Kindermedizin, eine Unterversorgung. Das ist eine der desaströsen Folgen der Fallpauschalen, und das muss korrigiert werden.
Wie schnell wird es gehen?
In diesem Jahr kann sich noch nichts ändern. Denn erst nach erfolgter Einstufung aller Kliniken kann die Finanzierung umgestellt werden. Ich hoffe, dass die Länder bei der Reform mitziehen und auf dem nächsten Treffen der Gesundheitsminister ein klares Signal dafür abgeben. Wir müssen da jetzt Tempo reinbekommen, dann könnte ab Mitte 2024 die Umsetzung starten. Allerdings müssen wir auch die Zeit bis dahin überbrücken, denn vielen Häusern steht finanziell das Wasser bis zum Hals. Es braucht also eine Überbrückungshilfe von Bund und Ländern. Es wäre fatal, würde die eine oder andere Klinik vorher kapitulieren, die wir danach wieder mit viel Geld aufbauen müssten, weil sie für die Versorgung gebraucht wird. Die Länder stehen in der Pflicht, die unverzichtbaren Standorte zu identifizieren, über Wasser zu halten und auch zu entscheiden, wo sich Strukturen verändern müssen.