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Analysten und der KriegSteht die ukrainische Offensive vor dem Scheitern – oder vor dem Durchbruch?

Lesezeit 7 Minuten
Ein verwundeter ukrainischer Soldat im Rollstuhl vor einem zerstörten russischen Panzer, der anlässlich des ukrainischen Unabhängigkeitstages am 24. August in Kiew ausgestellt wurde.

Ein verwundeter ukrainischer Soldat im Rollstuhl vor einem zerstörten russischen Panzer, der anlässlich des ukrainischen Unabhängigkeitstages am 24. August in Kiew ausgestellt wurde.

Angeblich warnen US-Geheimdienstler vor einem Steckenbleiben der ukrainischen Offensive. Was ist über die Lage im Kriegsgebiet bekannt? Geht es wirklich nur um ein paar Dörfer – und gibt es Chancen für ein Ende der Kampfhandlungen? Und was hat das mit Schrödingers Katze zu tun?

Bleibt die ukrainische Offensive stecken? Seit Tagen geistern Warnungen anonymer US-Offizieller durch die Medien. Die Offensive werde ihr wichtigstes Ziel verfehlen, nämlich die Zerschlagung der von Russland eroberten Landbrücke zu Krim, steht laut „Washington Post“ in einem Geheimdienstpapier, das ihre Informanten gesehen haben wollen. Die Ukraine solle höhere Risiken im Krieg eingehen und ihre Kräfte konzentrieren, mahnen anonyme US-Vertreter in der „Financial Times“. Sie solle mehr Truppen in den Süden verlegen, sonst drohe ihr Vorstoß vor der Stadt Melitopol steckenzubleiben, sekundieren nun angeblich auch hohe US-Generäle laut „New York Times“. Was hat das zu bedeuten?

Wie schätzt Washington die Kriegslage ein?

Jedenfalls offiziell anders als in den Medienberichten. US-Sicherheitsberater Jake Sullivan hat auf den angeblichen Geheimdienstbericht mit dem Hinweis reagiert, es gebe kein Patt. Die Ukraine erobere auf einer „methodischen, systematischen Basis“ Territorium zurück. Zumal die Zitate in der „Post“ ihrerseits Fragen aufwerfen. Wenn die ukrainischen Truppen immerhin bis auf einige Meilen an Melitopol heranrücken könnten - hätten sie dann nicht schon ihr Ziel erreicht, die über die Stadt auf die Krim verlaufenden Verkehrswege zu blockieren, fragt das Institute for the Study of War. Und wieso soll überhaupt allein Melitopol entscheidend sein?

Was passiert gerade an der Front im Süden?

Soweit bekannt, liegt der Schwerpunkt der Kämpfe im Süden im Bezirk Saporischschja, und zwar etwa zehn Kilometer südlich von Orichiw. Dort wollen die Ukrainer nach eigener Darstellung in Richtung Melitopol vorstoßen und haben mit der Einnahme zumindest des überwiegenden Teils von Robotyne nach ISW-Einschätzung einen taktisch signifikanten Erfolg erzielt. Sie haben die dichtesten Minenfelder hinter sich gelassen und arbeiten sich an der „Surowikin-Linie“ (benannt nach dem russischen Ex-Luftwaffenchef Sergej Surowikin) ab. Sofern sie diese Befestigungen überwinden können, hindert die Ukrainer eigentlich nichts mehr am Vormarsch auf die Kleinstadt Tokmak, durch die wichtige Straßen und die West-Ost-Eisenbahnlinie von der Krim über Melitopol in den Bezirk Donezk verlaufen. Das Kappen dieser Verbindung wäre ein wichtiger Teilerfolg, aber er wäre teuer erkauft: Die Ukraine attackiert bei Robotyne den am stärksten ausgebauten Teil der „Surowikin-Linie“.

Erleben wir eine „Schrödinger-Offensive“?

Wochenlang haben sich westliche Analysten schwer damit getan, das ukrainische Vorgehen zu deuten. Warum Robotyne, und warum ein paralleler Vorstoß bei Uroschajne – „Richtung Berdjansk“, wie Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar zu erklären pflegt –, der letzten Endes in einem schmalen Korridor von Nebenstraßen in Tallage münden würde?

Der britische Militäranalyst Peter Caddick-Adams vermutete da eine besonders raffinierte Taktik, eine „Schrödinger-Sommeroffensive“, also ein großes Täuschungsmanöver – angelehnt an ein Gedankenexperiment des Physikers Erwin Schrödinger, bei dessen fiktiver Katze man nie wissen kann, ob sie überhaupt da ist. Für derartige Spielchen ist der Aufwand aber viel zu hoch. Die Ukraine hat große Teile ihrer bisherigen Reserven in den Kampf geschickt, darunter bei Robotyne die mit britischen Challenger-Panzern und deutschen Mardern ausgestattete 82. Luftlandebrigade (wie sehr zu Maljars Missvergnügen bekannt wurde). Nach Robotyne nimmt die Ukraine die Nachbarorte Kopani, Nowopokopiwka und Werbowe ins Visier.

Russische Militärblogger wie Rybar und Romanow zeigen sich besorgt, der ukrainische Generalstabschef Walerij Saluschnyj meint laut „Wall Street Journal“, man stehe kurz vor dem Durchbruch. Er soll seinen US-Gesprächspartnern entgegengehalten haben: „Ihr versteht diesen Konflikt einfach nicht. Das ist kein Kampf gegen Aufrührer – das ist Kursk.“ Das bezieht sich auf die größte Panzerschlacht des Zweiten Weltkrieges. Von wegen Schrödinger: Der vermeintliche Kampf um ein paar Dörfer nimmt erhebliche Dimensionen an.

Wie ist die Lage am Unterlauf des Dnipro?

Über Erfolge „Richtung Melitopol“ und „Richtung Berdjansk“ hat Maljar regelmäßig berichtet. Das ukrainische Militär verbreitete Drohnenvideos und rührende Szenen mit geretteten Senioren – auch wenn es seit Donnerstag ruhiger wurde. Geradezu betäubendes Schweigen aber herrscht seit Wochen über die amphibischen Operationen am östlichen Dnipro-Ufer. Auch nach der Befreiung der Stadt Cherson blieb dieses Ostufer in der Hand der Besatzer, aber die Kontrolle entgleitet ihnen, wie russische Blogger deutlich machen.

Mittlerweile hält die ukrainische Armee zwei Brückenköpfe (gegenüber von Cherson und flussaufwärts beim Dorf Kosaki Laheri, zu Deutsch „Kosakenlager“), hat Inseln bis hinauf nach Nowa Kachowka besetzt – und unterhält einen regen Schnellbootverkehr über den Fluss. Die Ukrainer hätten hier „komplett die Initiative“, heißt im russischen Blog „Notizen eines Veteranen“. Trotz dieser brenzligen Lage haben die Russen Fallschirmjäger ihres 108. Regiments vom Dnipro Richtung Rotobyne verlegen müssen. Kann die Ukraine nun nachstoßen?

Die Landenge von Perekop, die einzige Krim-Verbindung, die über Festland und nicht über Brücken verläuft, ist nur 80 Kilometer entfernt. Die Brücken zur Halbinsel, die Russland als Drehscheibe im Angriffskrieg dient, stehen immer wieder im Fokus ukrainischer Angriffe ebenso wie die Militäreinrichtungen dort. Jüngst zerstörten die Ukrainer ein russisches Luftabwehrsystem S-400 bei Oleniwka im Nordwesten der Krim – und filmten die Aktion auch noch per Drohne. Kurz danach landeten ukrainische Geheimdienstler im Nachbarort Majak.

Nur: Ein Angriff auf die Krim-Zugänge vom Dnipro her würde ganz andere Herausforderungen stellen als solche einzelnen Militärschläge. Ein paar Fahrzeuge per Fähre über den Fluss zu bringen wäre wohl kein großes Problem, eine große Querung mit einer Pontonbrücke aber würde das Risiko russischer Luftangriffe nach sich ziehen. Russische Gleitbomben fliegen 50 Kilometer weit, zur Abwehr müsste die Ukraine kostbare Luftabwehrsysteme über den Fluss und damit in die Gefahrenzone bringen – schwierig.

Wie sind die weiteren Perspektiven?

Sollen die Aktionen am Dnipro nur die bei Robotyne unterstützen – oder ist es umgekehrt? So oder so verteidigen die russischen Besatzer ihre Beute an der Saporischschja-Front verbissen.

Zudem kämpfen die Ukrainer – gegen den angeblichen Rat der US-Militärs — auch intensiv im Nordosten ihres Landes, binden russische Truppen bei Bachmut und erwehren sich russischer Vorstöße bei Kupjansk. Die Ukraine will auch hier keine großen Gebietsverluste riskieren. Der Tod von Söldnerchef Jewgeni Prigoschin und seinem Vize Dmitri Uschkin ändert an den Kräfteverhältnissen nichts, denn die zuletzt bei Bachmut eingesetzten Wagner-Einheiten waren ja sowieso abgezogen. Russische Militärblogger mögen vor schlimmen Folgen für die Moral der eigenen Truppen warnen – aber die Demoralisierung geht bislang nicht so weit, dass Frontabschnitte zusammenbrechen würden.

Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow hat in dieser Woche erneut deutlich gemacht, dass sein Land sich auf einen langen Krieg einstellt. Also weit über diesen Herbst und Winter hinaus. Gibt es keinen Ausweg?

Dass es im Frühjahr 2022 einen unterschriftsreifen Friedensvertrag gegeben habe, ist eine russische Propagandalüge. Das Dokument, das Kremlchef Wladimir Putin im Juni afrikanischen Staatschefs zeigte, dokumentiert nur die unterschiedlichen abweichenden Vorstellungen beider Seiten. Angesichts der russischen Massaker in den Kiewer Vororten lehnte die Ukraine weitere Verhandlungen ab. Zwar handeln Russland und der Ukraine immer wieder einmal den Austausch von Kriegsgefangenen aus. Es gibt auch Gesprächsfäden zwischen westlichen Hauptstädten und Moskau. So hat CIA-Chef William Burns während des Aufstandes der Wagner-Söldner eine Stunde lang mit seinem russischen Gegenpart Sergej Naryschkin telefoniert und ihm versichert, dass die USA nichts mit den Vorgängen zu tun hätten. Aber Gespräche über einen Waffenstillstand?

Auch bei einem Ende der Kämpfe ginge die Gewalt der Besatzer gegen ukrainische Zivilisten weiter: „Filtration“, Folter, Mord, Verschleppung von Kindern. Im besetzten Mariupol werden systematisch Russen angesiedelt. Keine ukrainische Regierung könnte unter diesen Umständen einer russischen Kontrolle über ukrainisches Gebiet zustimmen. Erst im August ergab eine Umfrage unter über 2000 Ukrainern erneut eine Mehrheit von 90 Prozent gegen jede Gebietsabtretung. Umgekehrt heizt das russische Staatsfernsehen die Stimmung immer weiter an. In der TV-Show von Sergej Mardan wurde jüngst die Ausrottung der kompletten ukrainischen Nation gefordert. Duma-Mitglied Andrej Guruljow regte im Fernsehen an, den Krieg auch auf Polen und die US-Basen in Südkorea und Japan auszuweiten. Abgesehen davon hält Moskau an seiner Position fest: keine Verhandlungen ohne vorherige (!) Gebietsabtretungen.

Ein rasches Kriegsende ist da kaum vorstellbar, egal, wie weit die aktuelle ukrainische Offensive führt. Zu deren Verlauf hat der frühere US-Europakommandierende Mark Hertling übrigens eine sehr abgewogene Einschätzung: Sie vollziehe sich weder langsam noch schnell, „sondern so, wie es im Krieg normal ist“. Und der in Schottland lehrende US-Militärhistoriker Phillips O’Brien meint, vielleicht wisse das ukrainische Oberkommando ja selbst sehr gut, um was es gehe – während anonyme westliche Beobachter durchaus nicht alles Wissen hätten.