EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gab in ihrer jährlichen Rede zur Lage der Union mehr Rück- als Ausblick – und zog eine positive Bilanz.
Rede Lage der EUState of the Union – die große Von-der-Leyen-Show
Da reiste schon der gesamte EU-Tross in Wanderzirkus-Manier von Brüssel nach Straßburg, doch diese eine Frage, die die Blase derzeit nervös umtreibt, beantwortete Ursula von der Leyen nicht. Strebt die Kommissionspräsidentin eine zweite Amtszeit an? Kein Wort gab es dazu, aber ihre Inszenierung auf der großen politischen Bühne könnte als Hinweis dienen.
Wochenlang lief auf der Internet-Seite der EU-Kommission ein Countdown, der die Tage, Stunden, Minuten und sogar Sekunden heruntergezählt hatte, bis die Chefin am Mittwochmorgen um exakt 9.09 Uhr ans Pult im riesigen Plenarsaal trat. Zeit für die jährliche Rede zur Lage der Union, Zeit auch für viel Eigenlob.
Die Ansprache neun Monate vor dem Urnengang trug den Titel „Europa stellt sich seinem historischen Auftrag“ und dürfte dann auch als Fundamentlegung für die kommende Wiederwahl-Kampagne verstanden werden. Denn die 64-Jährige zog eine Stunde und vier Minuten lang vor allem Bilanz. So viel vorneweg: Ursula von der Leyen findet in aller Bescheidenheit, dass Ursula von der Leyen einen äußerst guten Job gemacht hat. Man habe „bei mehr als 90 Prozent der politischen Leitlinien“, die sie vor vier Jahren vorgelegt hat, geliefert.
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Zugeständnisse an Länder
Die Erwartungen im Publikum waren so riesig wie gegensätzlich. Dementsprechend versuchte sich die Deutsche im Spagat. Für jeden, den sie für eine weitere Amtszeit braucht, war ein Geschenk dabei. Neben der europäischen Automobilindustrie dürfte vorneweg Frankreich erleichtert über von der Leyens Ankündigung sein, eine Wettbewerbsuntersuchung wegen staatlicher Unterstützung für Elektroautos aus China einzuleiten (siehe Kasten). Zudem betonte sie, die Windkraft weiter vorantreiben und Genehmigungsverfahren stärker beschleunigen zu wollen. Auf der Liste der geplanten Projekte in den kommenden Monaten stehen darüber hinaus der Kampf gegen illegale Migration und Schlepper, was Italien freuen dürfte.
Als weiteres Schwerpunktthema sprach sie die schnell voranschreitende Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI) an und die damit verbundenen Herausforderungen wie Desinformation oder Verbreitung schädlicher Inhalte. „Unser Gesetz über Künstliche Intelligenz ist bereits eine Blaupause für die ganze Welt“, lobte von der Leyen und kündigte eine neue Initiative an, um KI-Start-ups „unsere Hochleistungscomputer zur Verfügung zu stellen, um ihre Geschäftscmodelle zu erproben“.
Die Deutsche pries den Grünen Deal, mit dem die EU bis 2050 Klimaneutralität anstrebt, und betonte die einzigartige biologische Vielfalt in Europa. Mit der Ostsee habe man „das größte Brackwassermeer der Welt“, teilte die Niedersächsin mit heimatlichem Zungenschlag einem erstaunten Publikum mit. Biodiversität und Ökosystemleistungen seien für alle Menschen in Europa überlebenswichtig. „Gleichzeitig bleibt die Ernährungssicherung im Einklang mit der Natur eine wesentliche Aufgabe“.
Sie dankte – auf Deutsch – den Landwirten, die „uns Tag für Tag mit Lebensmitteln versorgen“. Es war Balsam für die Seele der frustrierten Bauern und ein Friedensangebot an die Konservativen, die jüngst gegen wichtige Umwelt- und Klimagesetze rebelliert hatten. Manfred Weber, Chef der Europäischen Volkspartei (EVP), begrüßte die Zusage, dass die Brüsseler Behörde bei der Umsetzung des Grünen Deals künftig den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie stärker im Blick behalten werde.
Seit 2010 gibt es die Tradition der jährlichen Rede, die eine Kopie der „Zur Lage der Nation“-Ansprache US-amerikanischer Präsidenten ist. Der kleine, aber feine Unterschied: Von der Leyen ist nicht die Regierungschefin Europas, kann ohne die Hilfe aus den 27 Mitgliedstaaten ihre Ideen keineswegs umsetzen, mögen sie noch so schön in Sonntagsreden verpackt sein.
EU-Erweiterung als Herzenssache
Auf die Unterstützung der EU-Länder ist sie vor allem bei einem Projekt angewiesen, das auch als ihre Herzensangelegenheit bezeichnet werden darf: die EU-Erweiterung. Sie nannte als Ziel eine „vollendete Union mit über 500 Millionen Menschen“, die in einer freien, demokratischen und blühenden Gemeinschaft lebten. Da schimmerte dann doch ihre Vorliebe für den pathetischen Auftritt heraus. Die Deutsche beschwor den „Ruf der Geschichte„, als sie die Europäer aufforderte, die Ukraine, die Westbalkanländer und Moldau in eine EU mit mehr als 30 Ländern aufzunehmen.
„In einer Welt, in der einige versuchen, sich andere Länder nach und nach unter den Nagel zu reißen, können wir es uns nicht leisten, unsere europäischen Freunde im Stich zu lassen“, sagte sie und bekräftigte ihre Unterstützung für EU-Reformen. Das bedeute auch, „dass wir einen Europäischen Konvent einberufen und den Vertrag ändern müssen, wenn und wo dies notwendig ist“, so von der Leyen.
Nicht in allen europäischen Hauptstädten dürften solche Töne für Jubelstürme sorgen. Geschenkt. Sie versuchte sich als optimistische Mutmacherin. Ihr zufolge sei die Zeit für Europa gekommen, „wieder im großen Maßstab zu denken und das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen“.