Was passiert nach dem Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts? Beispiel Energiepreispremsen: Sollen sie wirklich nicht verlängert werden, wie Finanzminister Christian Lindner gesagt hat? SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert sieht das im Rundschau-Interview anders.
SPD-Generalsekretär im InterviewÜbersteht die Ampelkoalition die Haushaltskrise, Herr Kühnert?
Das Bundesverfassungsgericht hat den 60 Milliarden Euro schweren Klimaformationsfonds gekippt, auch die Energiepreisbremse steht jetzt auf der Kippe, die Verabschiedung des Bundeshaushalts steht auf der Kippe. Wirtschaftsminister Robert Habeck hat im Juni gesagt, ein Haushaltsurteil würde Deutschland wahrscheinlich so hart treffen, dass „wir das nicht bestehen werden“ – wen immer er mit „wir“ meinte. Wird die Ampel das bestehen?
Das muss dieses Bündnis überstehen, und das wird es auch, wenn alle ihre Verantwortung wahrnehmen. Davon gehe ich fest aus. Es geht in dieser Situation um nicht weniger als die Weichenstellungen zur Sicherung unseres Wohlstands und des sozialen Zusammenhalts. Alle müssen sich der Tragweite der kommenden Entscheidungen bewusst sein.
Aber jetzt wird es bei Ihrem Koalitionspartner FDP erstmal eine Mitgliederbefragung geben, ob die Liberalen überhaupt in der Koalition bleiben. Lassen Sie sich das bieten?
Es ist das gute Recht einer jeden demokratischen Partei, über ihren Weg zu entscheiden. Da braucht die FDP keine Einmischung des SPD-Generalsekretärs. Das würde ich mir andersrum auch verbitten.
Aber die Rücksichtnahme eines großen Koalitionspartners auf die Nöte eines kleinen ist ja die eine Sache. Die Haushaltskrise in Zeiten zweier großer Kriege in unserer Nachbarschaft ist die andere. Ist das Warten auf die FDP da überhaupt zu verantworten?
Wir warten nicht ab, sondern wir handeln. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts müssen wir im Eiltempo die Finanzierung eines Teils unserer Projekte neu aushandeln. Das ist keine Kleinigkeit. Wir haben in dieser Koalition gemeinsame politische Ziele vereinbart, etwa, dass wir Zukunftstechnologien in Deutschland etablieren oder auch Kinderarmut bekämpfen. Und genau jetzt müssen wir Lösungen finden, wie angesichts der neuen Lage diese Vereinbarungen umgesetzt werden können. Der Koalitionsvertrag gilt unverändert und bindet alle Koalitionspartner.
Es gäbe ja eine Alternative. Schon vor dem Karlsruher Urteil gab es eine Forsa-Umfrage, nach der die meisten Befragten und auch 54 Prozent der SPD-Anhänger lieber wieder eine große Koalition hätten. Wäre die Zeit dafür jetzt nicht reif?
Das halte ich für einen Trugschluss, denn viele heutige Probleme sind auch das Ergebnis einer GroKo, die zu großen Reformen schlicht nicht die Kraft besaß. Trotzdem nehme ich den Wunsch nach einer anderen Art des Regierens sehr ernst. Ein Teil davon geht auf zu viel Koalitionskrach zurück. Den größeren Teil macht aber die allgemeine Unsicherheit aus. Die weltpolitische Lage, zwei Kriege, die Energiekrise, die Pandemiefolgen. Jedes andere Bündnis – GroKo, Jamaika – wäre mit denselben Herausforderungen und mit inneren Widersprüchen konfrontiert. Der Weg zurück zu mehr Vertrauen wird über die erfolgreiche Bekämpfung der Krisen und einen langen Atem führen.
Wie schätzen Sie es die Folgen des Karlsruher Urteils in der Sache ein?
Es verändert wesentliche Grundlagen der Haushaltsfinanzierung in Deutschland. Übrigens nicht nur für den Bund, sondern auch für die Bundesländer, egal von welcher Partei sie geführt werden. Auch zehn Tage nach dem Urteil sind noch nicht alle Verästelungen seiner Auswirkungen bis ins Letzte eindeutig zu erkennen. Doch manches ist auch ganz klar: Karlsruhe hat zwar zu der technischen Art geurteilt, wie wir Sondervermögen bislang bewirtschaftet haben. Karlsruhe hat sich jedoch nicht dazu geäußert, dass der Staat zu viel Geld ausgeben würde, dass unsere Projekte die falschen wären oder ähnliches. Und deswegen zwingt das Urteil auch nicht zu den Streichorgien, die nun einige herbeisehnen.
Das Bundesfinanzministerium hat nun auch Kreditermächtigungen auch aus dem 200 Milliarden Euro großen Wirtschaftsstabilisierungsfonds gesperrt, aus dem unter anderem die Energiepreisbremse bezahlt wird. Wie stark ist der gefährdet?
Der WSF ist von den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichtes ebenfalls betroffen. Deshalb werden wir jetzt einen Nachtragshaushalt beschließen, der seine Ausgaben des laufenden Jahres rechtlich absichert – auch die Energiepreisbremsen. Kein Privathaushalt muss Sorge haben, etwas zurückzahlen zu müssen. Ob es auch in 2024 noch Energiepreisbremsen geben wird, das muss nun politisch verhandelt werden. Die SPD hält das für geboten. Die Aussage von Finanzminister Lindner, die Preisbremsen würden zum Jahreswechsel auslaufen, habe ich mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Das mag seine Meinung sein – ein Beschluss der Koalition ist es nicht.
Hauptstreitpunkt bei dieser politischen Auseinandersetzung mit der FDP scheint die Schuldenbremse zu sein. Warum wollen Sie sie aussetzen – auch für 2024?
Weil die Notlage ja offensichtlich ist. Es sind äußere Krisen, die uns in enormem Ausmaß fordern. Das sieht nicht nur die SPD so. CDU-Ministerpräsident Daniel Günther hat in Kiel vor wenigen Tagen ein Sondervermögen seines Landes verlängert. Begründung: Corona-Folgen, Krieg, die Sturmflut an der Ostsee.
Und werden Sie mit dieser Begründung in Karlsruhe durchkommen?
Man sollte selbstverständlich nur beschließen, was man begründet für rechtssicher erachtet. Dabei hilft ein Blick auf die Hinweise, die uns Karlsruhe zur Definition einer Notlage gegeben hat: Es geht um externe Einflüsse, um damit verbundene hohe Kosten und darum, dass der Haushaltsgesetzgeber nicht langfristig dafür vorsorgen konnte. Ich halte es für unbestreitbar, dass wir von genau solchen Krisen betroffen sind.
Aber die Planungen für Hilfen in der Energiepreiskrise reichen bis 2027. Wird der Bundestag bis 2027 immer neue Notlagen feststellen müssen, um sie zu bezahlen?
Meine eigene Argumentation ernst nehmend, kann ich heute nur für die aktuelle Lage sprechen, nicht für 2025 oder gar noch später.
Aus der FDP kommt der Vorschlag, im Sozialetat nach Sparmöglichkeiten zu suchen. Warum nicht?
Nennen wir das Kind doch beim Namen. Wer richtig viel Geld aus dem Sozialetat rausholen will, der spricht dann vor allem über die Rente. Das ist dort der mit Abstand größte Posten. Gefordert werden also: Rentenkürzungen, keine Rentenanpassung im nächsten Jahr. Beiträge hoch, Renteneintrittsalter auch. Ich kann allen versichern, dass sie sich die Lebenszeit sparen können, mit der SPD solche Diskussionen zu führen. Das ist zwecklos. Die durchschnittliche gesetzliche Rente in Deutschland beträgt nach 45 Beitragsjahren 1543 Euro. Viele haben sogar deutlich weniger. Wie man ernsthaft auf die Idee kommen kann, ausgerechnet hier sei nun ein Solidarbeitrag fällig, ist mir schleierhaft.
Viele schauen eher aufs Bürgergeld. Da steigen die Kosten, und da gibt es einen Inflationsausgleich, wie ihn kein Rentner bekommt.
Das stimmt nicht. Die Renten folgen der Lohnentwicklung und sind daher bis zum letzten Jahr regelmäßig oberhalb der Teuerung gestiegen. Aber zurück zum Bürgergeld, bei dem gerne unterschlagen wird, dass es unter anderem von anderthalb Millionen minderjährigen oder derzeit erkrankten Menschen bezogen wird. Dazu kommen mehr als 800 000 sogenannte Aufstocker, die nur deshalb Bürgergeld beziehen, weil ihre Löhne so niedrig sind. Für die anderen schafft die Bürgergeld-Reform endlich bessere und nachhaltigere Möglichkeiten, um die Rückkehr auf den Arbeitsmarkt zu schaffen. Das kostet Zeit und Kraft, ja. Aber was soll die Alternative sein? Wenn ich der CDU zuhöre, dann reden die über Dinge wie Müll sammeln im Park. Das ist doch kein regulärer Job! Damit bekommen wir die Leute doch nicht aus dem Leistungsbezug raus.
Bei ukrainischen Flüchtlingen hat es mit der Arbeitsvermittlung nicht so recht geklappt.
Ihre Erwerbsquote ist mit knapp 20 Prozent zu niedrig, weil wir konsequent auf abgeschlossene Sprach- und Integrationskurse gesetzt haben, bevor es überhaupt auf den Arbeitsmarkt ging. Mit dem Jobturbo vereinfacht Hubertus Heil jetzt, dass beides gleichzeitig funktioniert. In diesen Wochen schließen zudem allein 200 000 Ukrainer ihre Integrationskurse ab und kommen damit auf den Arbeitsmarkt. Da sind dann auch wirklich enorme Einsparpotenziale. Und für die Betroffenen bedeutet es Teilhabe und Selbstbestimmung.
Halten Sie auch Steuererhöhungen für erforderlich?
Vollkommen unabhängig vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts macht die SPD in diesen Tagen Vorschläge für ein gerechteres Steuersystem in Deutschland. Für 95% der Beschäftigten, die ganz unspektakuläre Einkommen haben, schlagen wir Steuerentlastungen vor. Für riesige Einkommen und Multimillionen-Vermögen halten wir einen gerechteren Beitrag zu unserem Gemeinwesen für angezeigt, damit der Staat handlungsfähig bleibt. Unsere Herausforderungen werden ja größer, nicht kleiner.
Sie reden in der SPD über Änderungen im Steuerrecht.
Wir haben steuerliche Ungerechtigkeit, die kann man keinem Menschen mehr erklären. Millionen Beschäftigte im Land müssen auf ihre Einkommen weit mehr Steuern entrichten, als dass die Erben riesiger Unternehmen tun. Das hat mit Leistungsgerechtigkeit nichts zu tun und muss geändert werden. Wir werden auf unserem Parteitag Anfang Dezember ein Steuerkonzept beschließen, das Antworten auf genau diese Fragen gibt. Übrigens hatte ja auch Herr Merz bei CDU ganz ähnliche Vorschläge zur Einkommensteuer gemacht - bis er zurückgepfiffen wurde.
Der Hinweis auf Merz ist interessant. Mit der FDP wäre das dagegen sicher nicht zu machen ...
Wir werden sehen. Aber alle sollten zur Kenntnis nehmen, dass seit den 90er Jahren vor allem für sehr wohlhabende Menschen Steuern gesenkt wurden. Verbrauchsteuern, die vor allem normale Einkommen belasten, sind hingegen gestiegen.
Neu: So oder so, schaffen Sie es, den Haushalt 2023 noch im laufenden Jahr verfassungsfest zu machen, damit wir aus den Ausgabensperren rauskommen, um den Haushalt 2024 rechtzeitig zu verabschieden?
Der Finanzminister hat die Ausnahme von der Schuldenregel für das laufende Jahr angekündigt und möchte kurzfristig einen Nachtragshaushalt vorlegen, über den dann das Parlament beraten kann. Die Weichen sind also gestellt, das wird klappen.
Letztes Thema: Das Zwei-Prozent-Ziel der Nato bei Verteidigungsausgaben belastet den Haushalt natürlich auch. Können Sie es einhalten?
Wer wie die SPD mit kluger Diplomatie für gerechten Frieden sorgen will, muss trotzdem eine wehrhafte Gesellschaft hinter sich haben und in Sicherheit investieren. Und deswegen haben wir auch dafür gesorgt, dass das Sondervermögen für die Bundeswehr abgesichert ist. Vom Karlsruher Urteil ist es nicht betroffen. Wir erfüllen auch die Nato-Quote, 2,1 % sind es laut Haushaltsentwurf im nächsten Jahr.
Die nächste Frage hat nicht direkt mit Geld zu tun, aber können Sie mir mal erklären, warum Deutschland der Ukraine zwar mächtige Waffensysteme liefern kann, Taurus-Marschflugkörper aber zu gefährlich sein sollen? Auch darüber gibt es ja viel Streit in der Ampel und auch in der SPD.
Ich bin kein Militärexperte. Das ist am Ende auch keine Entscheidung des Bundestages. Sondern hier hat, in Abwägung aller Tatsachen, der Bundeskanzler eine souveräne Entscheidung getroffen. Da ja alle andauern vom Bundeskanzler mehr Führung fordern: Das ist sie.
Man hört aber auch, von 600 Taurus seien nur 150 einsatzbereit, auch die Munitionsproduktion reicht vorn und hinten nicht. Kriegen wir das überhaupt hin?
Nach allem, was ich mitbekomme, steigen die Produktionszahlen in der Rüstungsindustrie. Aber oft auf überschaubarem Niveau. Es ist auch die Aufgabe der Wettbewerbshüter, dass genau geprüft wird, dass nicht etwa künstlich verknappt wird, um die Preise hoch zu treiben. Ich bin wahrlich kein Waffenexperte, aber ich höre gelegentlich von Gütern, die vor Kriegsbeginn pro Stück vielleicht 2000 Euro gekostet haben und bei denen sich die Preise jetzt mal eben vervielfachen. Da ist zumindest der Gedanke nicht abwegig, dass hier auch Mitnahmeeffekte stattfinden auf Kosten der Allgemeinheit. Und das wäre nicht in Ordnung.