Ein knappes halbes Jahr steht Boris Pistorius jetzt an der Spitze des Verteidigungsministeriums. Seitdem ist viel passiert. Doch trotz erster Erfolge ist unsicher, ob die angestoßenen Reformen wirken – und wann.
Rundschau-Debatte des TagesReformen bei der Bundeswehr – wird nun alles gut?
Als Boris Pistorius im Januar das Amt des Verteidigungsministers übernahm, herrschte zunächst Überraschung – den niedersächsischen SPD-Innenminister hatte bei all den kursierenden Namen fast niemand für die Nachfolge der glücklosen Christine Lambrecht auf dem Schirm. Dann begann ein fast beispielloser Höhenflug: Der Neue fand von Anfang an die richtigen Worte, verbrachte viel Zeit bei der Truppe und packte glaubhaft an – polit-typische rhetorische Ausflüchte suchte man meist vergeblich.
Das kam bei der noch durch Christine Lambrechts Stöckelschuhe im Wüstensand traumatisierten Bundeswehr ebenso gut an wie in der Öffentlichkeit, die sich angesichts des Ukraine-Kriegs plötzlich des Nutzens einer gut ausgestatteten Armee bewusst wurde. Beste Voraussetzungen für das neue Regierungsmitglied, um zum beliebtesten Minister der Republik zu werden. Pistorius kam dabei unter anderem zugute, dass er, als erster Verteidigungsminister seit Jahrzehnten, endlich mal wieder etwas zu verteilen hat.
Bürokratieabbau bei der Truppe
Die 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Truppe waren zwar noch unter der Vorgängerin verkündet worden, die allerdings hatte ihre Chance nicht genutzt – und auch nicht nutzen können, muss man sagen. Denn die eigentliche „Zeitenwende“, also das grüne Licht von Bundeskanzler Olaf Scholz für Panzerlieferungen an die Ukraine, kam erst unter Pistorius. Gerade bei der viel geforderten Ausrüstung hat es der 63-Jährige geschafft, ein Kernproblem der Bundeswehr zu beseitigen: das langsame Beschaffungswesen.
In der Vergangenheit hat sich die Truppe durch Perfektionismus und Paragrafenreiterei immer wieder selbst gelähmt. Es haben sich viele Erlasse, Anforderungen und interne Regeln angestaut, die in keinem Gesetz vorgesehen sind, aber dennoch eingehalten werden müssen und den Verkehr aufhalten. Pistorius ging dies mit einem radikalen Befehl von Generalinspekteur Carsten Breuer an. Zeit soll demnach die oberste Priorität sein.
Lange schoben sich alle im Prozess Beteiligten gegenseitig den Schwarzen Peter für Verzögerungen zu. Das Ministerium und sein Beschaffungsamt meckerten über den angeblich faulen Haushaltsausschuss des Bundestags, dieser meckerte über die vermeintlichen Bürohengste im Amt. Das vergiftete die Stimmung und führte zu gegenseitigem Misstrauen. Besser wurde die Ausrüstung der Soldaten dadurch nicht. Pistorius pflegt nun eine enge Beziehung zum Haushaltsausschuss und besucht des Öfteren seine Sitzungen. Das Gremium macht seinerseits Sondersitzungen und Überstunden, um alle Rüstungsprojekte durchzukriegen, und das Beschaffungsamt legt die Abstimmungsvorlagen mit einer höheren Schlagzahl vor.
Ist jetzt alles besser? Nein. Das Beschaffungswesen ist ein gigantisches System, eine Kurskorrektur gelingt nicht von heute auf morgen. Auch Breuers Erlass ist vorerst nur ein Provisorium, bis nachhaltigere Reformen beschlossen werden können. Zudem sind die Kapazitäten der Industrie begrenzt, auch weil Deutschland nicht das einzige Land ist, das gerade seine militärischen Kapazitäten ausbaut.
Es ist aber klar, dass die Führungsriege im Ministerium weiß, wo bei der Beschaffung der Schuh drückt, und bereit ist, Reformen anzugehen. Was beim Panzerkaufen funktioniert, klappt jedoch nicht überall so gut. Dass die Bundeswehr derzeit im Ansehen der Gesellschaft steigt, kann vor allem ein drängendes Problem vorerst nicht beheben: den Personalmangel. Pistorius selbst ließ die Thematik lange unbeachtet, obwohl er sie selbst später als „mindestens so groß“ wie das Materialproblem bezeichnete.
Bis der umtriebige neue Minister das erste Mal im eigenen Personalamt in Köln offiziell vorbeischaute, vergingen jedoch vier Monate. Das Problem: Bei der Personalpolitik lassen sich nicht die schnellen Erfolge vermelden wie etwa bei Rüstungsbestellungen. Von derzeit 183.000 auf 203.000 Soldaten soll die Bundeswehr bis 2031 wachsen. Ein Ziel von Pistorius’ Vorgängerin, das kaum einem Realitätscheck standhält. Zu wenige Bewerber kommen neu dazu, zu viele können nicht gehalten werden. Den Fachkräftemangel bekommt auch die Bundeswehr zu spüren.
Pistorius will Frauen und Menschen mit Migrationsgeschichte ansprechen
Immerhin ist Pistorius der erste Verteidigungsminister seit Ursula von der Leyen, der die Zahl von künftig 203.000 Soldaten zumindest infrage stellt. Eine generelle Kehrtwende ist hier jedoch nicht zu erwarten. Frauen und Menschen mit Migrationsgeschichte sind bei den Streitkräften mehr als unterrepräsentiert, ihr Anteil liegt im einstelligen Prozentbereich. Beide Gruppen will Pistorius nun verstärkt ansprechen. Wie genau das gehen soll, ließ er bislang offen, ein umfangreiches Konzept zu Personalgewinnung und -haltung gebe es aber bereits.
Bei denen, die bereits da sind, trifft er hingegen wohl den richtigen Ton. Soldaten berichten von einem Minister, der sie versteht und den sie verstehen, ein Höhepunkt des Miteinanders fand im niedersächsischen Bückeburg statt. Beim „Tag der Bundeswehr“ strömten rund 100.000 Menschen auf das Gelände, auf dem auch Pistorius war. Seine viel beachtete Rede („Es ist nicht irgendeine Armee, es ist unsere Bundeswehr“) lieferte den passenden Soundtrack für das neue Miteinander. Auch in diesem Falle ist der Eindruck des neuen Ministers desto positiver, je eher man sich die Zustände unter seiner Vorgängerin in Erinnerung ruft.
Dass das Verteidigungsministerium lange Zeit kaum zur Ruhe oder zur Arbeit kam, lag auch daran, dass regelmäßig Dokumente und Informationen an die Presse durchgesteckt wurden. Ganz anders unter Pistorius. Als er ankündigte, 4000 deutsche Soldaten dauerhaft in Litauen stationieren zu wollen, wie es die dortige Regierung seit Jahren fordert, klappte nicht nur manchem sonst gut informierten Journalisten die Kinnlade herunter. Durch seine überraschende Ankündigung hat er die Truppe unter Zugzwang gesetzt und sich wohl auch erstmals gegen die Ratschläge der Militärs entschieden.
Nicht alle hohen Offiziere sind überzeugt, dass die Bundeswehr wirklich liefern kann. Der Ukraine-Krieg und die deutsche Waffenhilfe zehren weiter an der knappen Ausrüstung, Munition bleibt Mangelware. Auf den Weg gebrachte Großbestellungen kommen erst in einigen Jahren bei der Truppe an. Den Verteidigungsminister erwartet jetzt seine erste richtige Feuerprobe.