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Interview

Scharfe Kritik des Europarats
Was muss Deutschland gegen Armut tun, Herr Krücker?

Lesezeit 5 Minuten
Eine Person liegt in der Innenstadt von Stuttgart unter einem Schlafsack. Die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland steigt.

Auch Wohnungslosigkeit ist ein großes Problem in Deutschland.

Der Europarat kritisiert Deutschland für sozialpolitische Missstände. Wie könnten diese angegangen werden? Darüber spricht Carolin Raab im Interview mit Peter Krücker, Vorstandsmitglied der Caritas Köln.

Wie zeigen sich die vom Europarat kritisierten Missstände wie Armut, Wohnungsnot, oder mangelnde Inklusion in Deutschland konkret?

Es sind natürlich drei unterschiedliche Felder, die da kritisiert werden. In Bezug auf Obdachlosigkeit, gerade in Köln, kann jeder Bürger diese Einschätzung jeden Abend vornehmen, wenn er oder sie durch die Stadt läuft. Obdachlose haben eine große Präsenz in unserem Stadtbild, und das in einem viel stärkeren Umfang als in den letzten Jahren. Das ist auch nicht mehr ein rein innerstädtisches Thema, sondern auch in den Vororten kann man feststellen, dass dort vermehrt Obdachlose campieren oder Bettler unterwegs sind.

Es gibt zwar eine sozialpolitische Zielsetzung, dass bis 2030 Obdachlosigkeit in Köln beseitigt werden soll. Das halte ich aber überhaupt nicht für realistisch und habe da sehr, sehr wenig Hoffnung, dass es gelingt, hier substanziell mit den vorhandenen Instrumentarien Obdachlosigkeit zu bekämpfen. Das hat einen direkten Kontext zum Thema Versorgung mit Wohnraum und Wohnungsbau. Das ist ja kommunalpolitisch auch sehr präsent.

Die Zahl an Wohnungen, die neu geschaffen werden in Köln, ist deutlich zu gering, sowohl im sozialen Wohnungsbau als auch im normalen Mietwohnungsbau. Von daher gibt es eine extreme Knappheit an Wohnraum und daraus folgend extrem hohe Mieten. Und das sind natürlich Faktoren, die zur Entstehung von Obdachlosigkeit beitragen, aber insgesamt auch für eine hohe finanzielle Belastung von vielen Menschen sorgen, gerade auch von armutsgefährdeten Menschen.

Hier haben wir eine gewaltige Kluft zwischen Reichen und Superreichen und der Normalbevölkerung.
Peter Krücker

Aber grundsätzlich sind das ja keine Problematiken, die allein Köln betreffen…

Es ist ein Problem von städtischen Regionen. Auf dem Land stellt sich das völlig anders dar. Und in Ostdeutschland gibt es eher das Problem von leerstehendem Wohnraum als von mangelndem Wohnraum und zu hohen Mieten. Wo es Wohnraummangel gibt, ist dieses Problem dadurch entstanden, dass über Jahrzehnte der zunehmende Bedarf an Wohnraum nicht adäquat berücksichtigt worden ist. Und dieser zusätzliche Bedarf entsteht ja über zwei Faktoren: Zum einen über die Anziehungskraft von urbanen Räumen oder von Großstädten. Zum anderen wird heute pro Kopf mehr Wohnraum in Anspruch genommen, als vor zehn oder gar 20 Jahren.

Wie haben sich diese Problematiken in den letzten Jahren entwickelt? Haben Sie den Eindruck, Armut, soziale Ungleichheit, Wohnungsnot sind schlimmer geworden?

Ja, ich nehme es auf jeden Fall so wahr, dass sich diese Themen alle verschärfen in den letzten Jahren.

Wie kann es überhaupt sein, dass in einem so reichen Industrieland wie Deutschland so eine große soziale Ungleichheit herrscht?

Es hängt an den Prioritäten der Politik, sowohl auf der Bundes- als auch auf der Landesebene. Beim Bauen ist es auch ein kommunales Thema, dass die Prioritäten der Politik nicht bei der Armutsvermeidung liegen. Die Bundesregierung will das Volumen an Finanzmitteln für Sozialleistungen eher verringern als ausbauen, das ist ein Problem. Das andere Thema ist die Verteilung von Vermögen in der Bundesrepublik. Hier haben wir eine gewaltige Kluft zwischen Reichen und Superreichen und der Normalbevölkerung. Und auch da geht in Deutschland niemand ernsthaft heran.

Wie erklären Sie diese ungleiche Vermögensverteilung?

Ein Faktor ist, dass es in Deutschland aus meiner Sicht keine adäquate Erbschaftssteuer gibt und fast alle großen Vermögen über Erbschaften und auch Erbketten entstehen. Der andere Faktor ist aber auch die Besteuerung von Vermögen. In der Ära Kohl gab es in Deutschland noch eine Vermögenssteuer, die ist inzwischen abgeschafft und hohe Vermögen werden in Deutschland im Vergleich sehr gering besteuert. Hier fehlt eine politische Regulierung der Vermögensverteilung.

Welche Maßnahmen außer denen, die die Regierung jetzt schon ergriffen hat beziehungsweise ergreifen will, bräuchte es, um diese Missstände zu beheben?

Wir brauchen mehr Geld, sowohl im Wohnungsbau als auch allgemein zur Armutsbekämpfung. Wir müssen zusehen, dass soziale Leistungen, die es in Deutschland gibt, gerechter gestaltet werden. Da gibt es eine große Problematik in der Ausgestaltung unseres Sozialsystems. Wir bekommen gerade auch ein großes Problem mit Altersarmut, weil auch im europäischen Vergleich unser Rentenniveau eher gering ist und kontinuierlich weiter sinkt.

Auch die Verteilung von Pflegekosten ist ein Problem. Wir haben einen abnehmenden Anteil an Pflege, die in Familien geleistet wird, und mehr Pflege, die in Einrichtungen oder durch professionelle Dienste geleistet werden. Wir haben inzwischen in der stationären Pflege einen Eigenanteil von fast 3000 Euro, der neben den Leistungen der Pflegeversicherung noch finanziert werden muss. Und das kann fast kein Mensch mehr. Darüber rutschen viele Familien und auch gerade viele alte pflegebedürftige Menschen in die Armut beziehungsweise in Grundsicherungsbezug.

Nun kritisiert der Europarat auch die mangelnde Inklusion von Menschen mit Behinderung. Was genau könnte da verbessert werden?

Wir haben in der Eingliederungshilfe tatsächlich Strukturen, die nicht modernen Ansprüchen genügen. Auf der Gesetzgebungsebene ist das eigentlich schon angepackt worden: Wir haben etwa ein neues Bundesteilhabegesetz, was sehr deutlich in die richtige Richtung geht, die der Europarat hier von Deutschland einfordert. Wir sind aber in der Umsetzung dieses Gesetzes extrem langsam. Das wird partnerschaftlich umgesetzt zwischen den Trägern und den Kostenträgern.

Das ist hier bei uns der Landschaftsverband Rheinland und wir sind zum Teil über Jahre in der Beratung zur Umsetzung von einzelnen Schritten, ohne dass wir wirklich in der ganzen Systematik vorankommen. Hier brauchen wir tatsächlich viel mehr Dynamik, viel mehr Drive, damit es zu einer Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes kommt und damit in einem guten Miteinander von Finanzierern und Trägern das System angepasst und modernisiert werden kann. Das ist sehr, sehr zäh.