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Rundschau-Debatte des TagesEnergiepreise steigen ungehemmt an – wie gegensteuern?

Lesezeit 4 Minuten
Heizung Symbolbild

Symbolbild 

  1. Viele EU-Regierungen schauen besorgt auf die Preise für Strom und Gas.
  2. Steigen sie ungebremst weiter, drohen kalte Wohnungen und der Unmut der Bürger.
  3. Der Ruf nach Gegenmaßnahmen wird lauter.

Brüssel – Wenn Europas Finanzminister zusammentreffen, stehen in der Regel technische Fragen, etwa zur Bankenunion oder der Fiskalpolitik, ganz oben auf der Agenda. Die Tatsache, dass die Vertreter der Euroländer gestern als Priorität die Energiepreise diskutierten, zeigt die Dringlichkeit – und das Ausmaß des Problems.

Seit Monaten werden Gas und Strom in Europa teurer, und das in solch einer Geschwindigkeit, dass sich Verbraucher wie auch Unternehmen kaum noch darauf vorbereiten können. Im Schnitt sind die Preise europaweit um rund 250 Prozent nach oben geklettert. In Deutschland ist Strom an der Börse seit Januar rund 140 Prozent teurer geworden, in Spanien sogar 425 Prozent.

Aufschwung und teure Zertifikate

Die hauptsächlichen Treiber seien „temporäre Faktoren und die hohen Erdgaspreise“, sagte EU-Vizekommissionspräsident Valdis Dombrovskis am Montag zum Auftakt des Treffens in Luxemburg. Am heutigen Dienstag folgt die Sitzung aller 27 EU-Finanzminister. Neben der hohen Gas-Nachfrage infolge des weltweiten Wirtschaftsaufschwungs sind unter anderem auch die gestiegenen Kosten für CO2 -Zertifikate verantwortlich. Nun müsse laut Dombrovskis ein Weg gefunden werden, wie die Staatengemeinschaft die Herausforderung koordiniert angehen könne.

Gas wird genutzt zum Heizen, aber auch zur Stromerzeugung – der fossile Brennstoff hat dementsprechend auch Einfluss darauf, wie viel Strom kostet. Wenn überhaupt, so der Handelskommissar, stärke die derzeitige Krise das Argument, „sich von fossilen Brennstoffen weg- und hin zu erneuerbaren Energieträgern zu bewegen, um die Abhängigkeit zu senken“.

EU-weite Angst vor Spannungen

In den europäischen Hauptstädten sorgt die Entwicklung für Nervosität. Die Angst vor Energiearmut wie auch sozialen Spannungen ist groß. Die Regierungen haben noch die Bilder aus Frankreich im Kopf, als vor gut zwei Jahren die Gelbwesten-Bewegung zu Demonstrationen im ganzen Land aufgerufen hatte. Auslöser damals war eine von Präsident Emmanuel Macron geplante höhere Besteuerung von Benzin, vor allem Diesel, um die Energiewende zu finanzieren.

Es kommt deshalb kaum überraschend, dass es Frankreichs Wirtschaftsminister Bruno Le Maire war, der vor dem zweitägigen Treffen in Luxemburg einen Brief an seine Amtskollegen verschickte. Darin forderte er, dass die EU-Länder ihre Reaktion auf die gestiegenen Energiepreise abstimmen. Außerdem sei es von entscheidender Bedeutung, „andere Energiequellen zu erschließen und die europäische Abhängigkeit von Gas exportierenden Ländern so schnell wie möglich zu verringern“, hieß es in dem Schreiben. Das wiederum durfte durchaus als Kritik durch die Hintertür am Kurs Deutschlands verstanden werden. Denn in Paris betrachtet man den deutschen Ausstieg aus der Atomenergie als Fehler, weil dieser Europa in eine Abhängigkeit von Russland treibe.

Preise deckeln, Steuern senken

Mittlerweile versuchen die Mitgliedstaaten, mit Hilfe von Notmaßnahmen die Bürger zu entlasten. Um die Kostenspirale abzufedern, kündigte etwa die französische Regierung an, die Preise für Gas und Strom bis April zu deckeln. Italien will drei Milliarden Euro ausgeben, um Haushalten einen Teil ihrer Strom- und Gasrechnungen zu erlassen, unter anderem durch Steuersenkungen. In Spanien, wo es im Sommer bereits zu Protesten kam, wurde derweil die Mehrwertsteuer auf Strom vorübergehend gesenkt.

Ostseepipeline Nord Stream 2 wird mit Gas befüllt

In die umstrittene Ostseepipeline Nord Stream 2 ist das erste Mal Gas gefüllt worden. Am Montag habe die Befüllung des ersten Strangs begonnen, teilte die Nord Stream 2 AG mit. Die Erstbefüllung sei notwendig, bevor der Gastransport beginnen könne. Zum geplanten Zeitpunkt der Inbetriebnahme machte die Nord Stream 2 AG noch keine Angaben. Experten rechnen damit, dass noch im Oktober Gas durch die neue Pipeline geliefert werden könnte.

Bei der Bundesnetzagentur läuft noch ein Zertifizierungsverfahren zu Nord Stream 2. Darin geht es darum, die Nord Stream 2 AG gemäß einer EU-Richtlinie als Unabhängiger Transportnetzbetreiber anzuerkennen.

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Milliarden Kubikmeter Gas sollen jährlich durch die 1230 Kilometer lange Pipeline, die zwei Stränge hat, geliefert werden. Damit können nach Angaben der Betreibergesellschaft 26 Millionen Haushalte versorgt werden. (dpa)

Am heutigen Dienstag will die EU-Kommission einen „Werkzeugkasten“ vorstellen, eine Art Leitfaden, wie die Mitgliedstaaten den Preissprüngen am weltweiten Energiemarkt entgegenwirken können – ohne die nationalen Klimaziele außer Acht zu lassen. Denn für die Behörde kommt die Krise zu einer Unzeit. In Brüssel herrscht zunehmend die Sorge, dass der Preisschock den „Green Deal“ gefährden könnte. Das ambitionierte Programm, das Europa bis 2050 klimaneutral machen soll, wollte man eigentlich zügig verabschieden.

Das aber scheint unter den derzeitigen Umständen kaum vorstellbar. Denn die Umsetzung dürfte auch zu steigenden Rechnungen bei den Bürgerinnen und Bürgern führen. „Die Menschen sollen nicht vor der Frage stehen müssen, ob sie sich ein warmes Zuhause leisten können“, sagte der industriepolitische Sprecher der SPD-Europaabgeordneten, Jens Geier. Die Lösung sei „eine bessere Energieeffizienz und ein schnellerer Ausbau der erneuerbaren Energien für mehr Energiesicherheit sowie bezahlbare Preise in der Zukunft“.

Beim EU-Gipfel in Brüssel in drei Wochen soll das Thema ebenfalls auf der Tagesordnung stehen. Dies zeigt, wie beunruhigt die europäischen Regierungen kurz vor den kalten Wintermonaten sind.