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Proteste im IranTurban-Schlagen als Volkssport

Lesezeit 6 Minuten
Auf offener Straße attackieren Oppositionelle im Iran inzwischen schiitische Geistliche und stoßen ihnen den Turban vom Kopf.

Auf offener Straße attackieren Oppositionelle im Iran inzwischen schiitische Geistliche und stoßen ihnen den Turban vom Kopf.

Die Proteste, die seit dem gewaltsamen Tod von Mahsa Amini im Iran stattfinden, erfasst alle Gesellschaftsschichten und fordern ein Ende der Theokratie. Das Turban-Schlagen wirkt wie ein Kinderstreich - ist aber Teil der friedlichen Revolution.

Ein iranischer Geistlicher in Gewand und Turban geht die Straße entlang. Da taucht hinter ihm ein junger Mann oder eine junge Frau auf, schlägt ihm den Turban vom Kopf und rennt davon: Hundertfach filmen Mitglieder der Protestbewegung derzeit solche Szenen der Demütigung für die Mullahs und veröffentlichen sie im Internet. Noch vor zwei Monaten wäre das Turban-Schlagen im Iran undenkbar gewesen – heute ist es Mutprobe und Volkssport für Regimegegner. Die acht Wochen des Protests gegen die Islamische Republik haben den Iran verändert.

Viele wollen einen Regimewechsel in Teheran

Die Proteste, die sich am Tod der 22-jährigen Mahsa Amini in der Gewalt der Religionspolizei am 16. September entzündeten, haben die ganze Gesellschaft erfasst. Längst geht es nicht mehr nur um die Abschaffung des Kopftuch-Zwangs, den die Sittenwächter mit Aminis Festnahme durchsetzen wollten. Iranerinnen und Iraner jeden Alters, aus allen ethnischen Gruppen und sozialen Schichten wollen den Regimewechsel in Teheran. „Tod dem Diktator“, rufen sie und meinen Revolutionsführer Ajatollah Ali Khamenei, der an der Spitze des theokratischen Systems steht.

Die Regierung wirkt hilflos, besonders bei friedlichen Protestaktionen. Als die iranische Strandfußball-Nationalmannschaft jetzt gegen Brasilien spielte, blieben die Spieler bei der Nationalhymne demonstrativ stumm – das Staatsfernsehen unterbrach daraufhin die Übertragung. Während des Spiels feierte ein iranischer Torschütze seinen Erfolg, indem er mit Gesten so tat, als würde er sich die Haare abschneiden: Viele Demonstrantinnen im Iran ziehen sich demonstrativ das Kopftuch herunter und schneiden sich die Haare ab. Nach diesen öffentlichen Solidaritätsbekundungen vor den Live-Kameras könnte es am 21. November, wenn der Iran bei der Fußball-WM in Katar sein Eröffnungsspiel gegen England bestreitet, schon vor dem Anpfiff spannend werden.

Raisi fordert eine strengere Durchsetzung der islamischen Kleidervorschriften

Dass die Proteste bis dahin vorbei sein werden, ist unwahrscheinlich. Der Aufstand erschüttert das Land, in dem die Macht der Mullahs bis vor Kurzem absolut war. Bei der Präsidentenwahl im vergangenen Jahr hatte Khamenei alle Reform-Kandidaten von der Kandidatur ausschließen lassen und so den Hardlinern, die zuvor bereits das Parlament unter ihre Kontrolle gebracht hatten, mit ihrem Kandidaten Ebrahim Raisi auch das Amt des Staatspräsidenten beschert. Die Falken in Teheran können seitdem schalten und walten, wie sie wollen.

Möglicherweise haben sie dabei die jetzige Protestwelle sogar selbst losgetreten. Raisis Vorgänger als iranischer Präsident, der Reformer Hassan Ruhani, hatte die Religionspolizei noch aufgerufen, beim Kopftuch-Zwang Nachsicht zu zeigen: „Man kann die Leute nicht ins Paradies peitschen“, hatte er gesagt. Dagegen forderte Raisi, ein Schützling von Ober-Hardliner Khamenei, als Präsident eine strengere Durchsetzung der islamischen Kleidervorschriften.

300 Tote und rund 15000 Festnahmen

Khamenei und Raisi versuchten zunächst, die Proteste nach Aminis Tod zu ignorieren und herunterzuspielen. Inzwischen verteufeln sie die Demonstranten als Marionetten des feindlichen Auslands. Mehr als 300 Menschen sind bei Zusammenstößen zwischen Regimegegnern und der Polizei bisher getötet worden. Rund 15000 sollen nach Angaben von Menschenrechtlern festgenommen und mehr als 1000 bereits angeklagt worden sein.

Die Verhandlungen sollen öffentlich als Schauprozesse geführt werden. Raisis Verbündete im Parlament fordern eine harte Bestrafung der Verhafteten. Die Polizei setzt nun auch eine berüchtigte Sondereinheit gegen die Demonstranten ein: die 2013 gegründete Reiterstaffel „Aswaran“. In der Vergangenheit war sie vor allem während Paraden in Teheran zu sehen.

Sogar die Revolutionsgarde hat für viele ihren Schrecken verloren

Die Proteste gehen dennoch weiter. Täglich formieren sich in iranischen Städten neue Demonstrationszüge, an den Universitäten protestieren die Studenten. Schauspieler, Sportler, Akademiker und Juristen unterstützen die Regierungsgegner. Besonders junge Iranerinnen und Iraner haben endgültig keine Angst mehr vor dem Regime, was sich nicht nur beim Turban-Schlagen zeigt: Die Protestbewegung ignoriert sogar eine Warnung der Revolutionsgarde, der mächtigsten militärischen Kraft im Iran. Die Garde hatte den Demonstranten vor zehn Tagen befohlen, alle Kundgebungen einzustellen, doch innerhalb weniger Stunden gab es neue Proteste. Bei Trauerfeiern für getötete Oppositionelle versammeln sich Tausende.

Wenn sich nicht einmal die Revolutionsgarde Gehör verschaffen kann, wird es eng für das Regime. Der Aufstand ist zur größten Herausforderung für die Theokratie seit Gründung der Islamischen Republik vor 43 Jahren geworden. Unter dem Druck der Proteste zeigen sich erste Risse in der Front der Hardliner. Der Khamenei-Berater und Ex-Parlamentspräsident Ali Larijani erklärte kürzlich, die iranische Gesellschaft brauche mehr Toleranz und keine rigide Umsetzung des Kopftuch-Zwangs. Die Demonstranten seien „unsere Kinder“.

Proteste sind spontan und dezentral

Diese „Kinder“ haben bisher keine erkennbare Organisation. Proteste sind spontan und dezentral. Das erschwert dem Regime eine wirksame Reaktion, doch das Ziel des Aufstandes – der Regimewechsel – ist auf diese Weise kaum zu erreichen, wie die US-Denkfabrik Wilson Center in einer Studie festhielt: „Die Geschichte lehrt, dass die Erfolgsaussichten ohne Organisation und Führung gering sind“, schrieben die Autorinnen Marina Ottaway und Haleh Esfandiari.

Aber auch ohne feste Struktur gehen der iranischen Protestbewegung der Schwung und die Ideen bisher nicht aus. In Teheran entrollten Unbekannte jetzt an einer Fußgängerbrücke über einer viel befahrenen Straße ein Transparent. Es zeigte einen Affen mit Mullah-Bart und Turban.


Enkel von Khomeini fordert Reformen

Angesichts der Proteste im Iran hat ein Enkel von Revolutionsführer Ruhollah Khomeini (1902– 1989) Reformen gefordert. Der prominente schiitische Geistliche Hassan Khomeini (Foto) sagte dem Onlineportal Bayanfarda: „Die vernünftigste Art, das Land zu regieren, ist die mehrheitsorientierte Demokratie, die sich aus den Wahlurnen ergibt. Andere Wege sind mit weit mehr Fehlern und Kosten verbunden.“ Der Enkel des Ajatollahs, der selbst im Iran lebt, ließ damit Kritik am politischen System des islamischen Landes durchblicken, das sein Großvater gegründet hatte. Bereits zu Beginn der Proteste Mitte September hatte er sich kritisch geäußert.

Parlament und Präsident werden im Iran zwar regelmäßig gewählt, die eigentliche Macht konzentriert sich jedoch auf den sogenannten Obersten Religionsführer. Seit dem Tod Khomeinis 1989 ist dies Ali Khamenei. Kandidaten für die Präsidentenwahl müssen vom sogenannten Wächterrat abgesegnet werden. Dessen Mitglieder sind loyale Anhänger Khameneis und der politischen Führung. Bei den seit Wochen dauernden Straßenprotesten bezeichnen die Demonstranten Khamenei immer wieder als Diktator. Allerdings wird auch Hassan Khomeini von vielen, die jetzt auf die Straße gehen, zu den „Männern des Systems“ gezählt. (dpa)


Fischer: Regime lässt Jugend „abschlachten“

Der frühere Außenminister Joschka Fischer hat im Magazin „Stern“ schwere Vorwürfe gegen die Regierung des Iran erhoben. Ihn bedrücke, wie das Regime „die eigene Jugend abschlachtet“, sagte der Grünen-Politiker. „Wie die Menschen da auf die Straße gehen, das ist unglaublich mutig, wichtig und richtig.“ Auf die Frage, ob es durch die Proteste zu einem Umschwung im Iran kommen werde, antwortete der 74-jährige Fischer: „Ich hoffe es, denn die Menschen haben es verdient. Gerade die Jugend und die Frauen und Mädchen führen dort einen täglichen Kampf auf der Straße und riskieren Leben und Gesundheit, Gefängnis und Folter.“

Fischer verteidigte zugleich die langjährigen Bemühungen um ein internationales Atomabkommen mit der islamischen Regierung des Iran, die er noch in seiner Zeit als Bundesaußenminister von 1998 bis 2005 mit initiiert hatte. „Atomwaffen in iranischen Händen, das würde Krieg in der Region bedeuten, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass Israel diese existenzielle Bedrohung hinnehmen würde“, sagte der Grünen-Politiker. „Deshalb war es richtig zu versuchen, den Griff der Mullahs nach der Bombe wenigstens kontrolliert zu verlangsamen. Aber was wir jetzt sehen, ist ein Volksaufstand, nicht nur in Teheran, auch an der Peripherie.“ (EB)