Was bedeutet der mutmaßliche Tod von Söldnerchef Jewgeni Prigoschin für Wladimir Putins Macht? Und welche Perspektiven gibt es für den russisch-ukrainischen Krieg? Fragen an den Kölner Politikwissenschaftler Prof. Thomas Jäger.
Politologe Thomas Jäger zum Fall PrigoschinAngst als Säule von Putins Macht
Drei Thesen: Jewgeni Prigoschin saß tatsächlich im Flugzeug und ist tot, es war kein Unfall, sondern ein Mordanschlag, und so etwas passiert nicht ohne den Willen von Kremlchef Wladimir Putin. Können wir davon ausgehen, dass alle drei zutreffen?
Es gibt keine unabhängige Untersuchung, wer im Flugzeug war. Wir müssen uns auf russische Verlautbarungen verlassen, die man glauben kann oder nicht, und Russlands Glaubwürdigkeit ist nicht gerade hoch. Am Ende müssen wir davon ausgehen: Was aussieht wie Ente, schwimmt wie eine Ente und quakt wie eine Ente, das ist auch wirklich eine Ente. Und dass Präsident Putin Prigoschin für seinen Verrat im Juni 2023 mit dem Tode bestrafen wollte, das steht außer Zweifel. Das hat er offen gesagt. Es gibt ausreichend Äußerungen von ihm, dass er Verrat nicht verzeiht. Das spricht dafür, dass er jetzt das Exempel statuiert hat, auf das man gewartet hat.
Warum hat Putin dann so lange gewartet – und übrigens auch mit der Absetzung von Prigoschins Freund Sergej Surowikin, die ja am gleichen Tag erfolgte?
Aus zwei Gründen: Am Ende des Marschs auf Moskau gab es eine Vereinbarung zwischen Putin und Prigoschin, deren genauen Inhalt wir nicht kennen. Wir haben aber beobachten können, dass sich Prigoschin hernach relativ frei durch Russland und durch Afrika bewegt hat, als wäre nichts gewesen. Zweitens dürfen wir davon ausgehen, dass es Putin nicht nur um die Bestrafung von Prigoschin und Surowikin ging, sondern dass er zunächst das Netzwerk der Verräter aufdecken wollte. Und ich finde, dafür waren zwei Monate relativ kurz. Man konnte Prigoschin zwei Monate lang beobachten, gerade weil er sich so frei bewegte, konnte verfolgen, mit wem er sich trifft, mit wem er sich austauscht, prüfen, welche Kontaktleute auch Verräter sind oder sein könnten. So eine Leistung erwarte ich auch vom russischen Geheimdienst.
Sitzt Putin jetzt fester im Sattel?
Ja. Nach dem Marsch auf Moskau war die allgemeine Wahrnehmung, dass Putin schwach ist – auch vor dem Hintergrund des für Russland schlecht verlaufenden russisch-ukrainischen Krieges, der Rubelschwäche, der wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Das konnte Putin nicht auf sich sitzen lassen. Er musste zeigen, dass er das Zepter des Handelns wieder in der Hand hält, und zwar mit aller Konsequenz. Eine Säule seiner Macht ist die Angst, die jeder vor ihm hat, vor seiner Rache, wenn man nicht auf seiner Linie ist. Putin hat ein Signal gesetzt, das in der russischen Elite verstanden werden wird.
Nun ist es ja Putins Prinzip, verschiedene konkurrierende Gefolgsleute gegeneinander auszuspielen und zu zeigen, dass letztlich er entscheidet. Funktioniert dieses Balancieren denn jetzt noch, wenn bestimmte Gruppen wie Prigoschin oder Teile der Armeeführung weg sind?
Die funktioniert immer noch. Prigoschin hatte die rote Linie überschritten. Er hat geglaubt, dass er nicht mehr Teil dieses ausbalancierten Systems ist, sondern sich darüber erheben könnte. Dass er auf Augenhöhe mit Putin bestimmen könne, wer alles weg muss, Verteidigungsminister Sergej Schoigu etwa oder Generalstabschef Waleri Gerassimow. Vorher waren die Wagner-Söldner für Putin ein Teil im Machtmobile. Sie waren für ihn im Ausland ebenso wichtig wie im Inland. Jetzt müssen wir warten, was daraus wird. Der Versuch, sie in die Armee zu integrieren, hat nicht funktioniert. Wahrscheinlich wird es auch künftig ein Instrument wie Wagner geben, unter anderem Namen, in anderer Gestalt und vor allem mit einem loyalen Anführer.
Und was bedeutet das für den russisch-ukrainischen Krieg? Zwischenzeitlich gab es ja die Hoffnung, Brüche im Moskauer System könnten für die Ukraine positive Folgen haben.
Die Antwort ist doppelt und zugegebenermaßen widersprüchlich – so ist die Lage nun einmal. Einerseits hat sich gezeigt, wie tief die Risse in der russischen Elite gehen. Je strikter kontrolliert werden muss, wer überhaupt etwas sagen darf, desto schwächer ist der Herrscher eigentlich. Erinnern wir uns doch an die Verhaftung des Ex-Geheimdienstlers und Donbass-Kämpfers Igor Girkin, der publizistisch radikale Kritik an Putin geübt. Selbst solche nationalistischen Hardliner werden ruhiggestellt. Das deutet auf Putins Schwäche hin. Andererseits ist es Putin gelungen und gelingt es ihm möglicherweise weiter, die Macht an sich zu ziehen. Das haben wir in 18 Monaten Krieg beobachten können: Neben ihm spielt niemand mehr wirklich eine Rolle, bei ihm landet jede Entscheidung. Das macht ihn stark und schwach zugleich. Für den Krieg in der Ukraine heißt das: Es gibt keine Chance, ihn zu beenden, solange Putin ihn nicht beenden nicht will. Und Putin hat mehrfach klar gesagt, wann er ihn beendet, nämlich wenn die Ukraine russisch ist.