Was die Wahlen im Osten für NRW bedeuten könnten, darüber sprach Stephanie Weltmann mit Stefan Marschall, Politikwissenschaftler an der Universität Düsseldorf.
Politische Beweglichkeit in NRW„AfD ist kein Ostphänomen“ – Partei gewinnt Boden im Ruhrgebiet
Nicht nur in ostdeutschen Ländern feiert die AfD-Erfolge. Nachdem NRW lange als schwieriges Pflaster für die Partei gegolten hatte, hat sie bei den jüngsten Europawahlen vor allem in nördlichen Ruhrgebietsstädten wie Gelsenkirchen und Herne viele Wählerstimmen bekommen.
Prof. Marschall, ist der Erfolg der AfD ein Ostphänomen?
Nein. Man sieht ihn dort aber deutlicher, weil im Osten bestimmte Rahmenbedingungen stärker sind, die der AfD in die Karten spielen.
Welche sind das?
Überall im Land werden Wählerinnen und Wähler immer beweglicher. Das heißt, dass sie nicht immer die gleiche Partei wählen. Das hat damit zu tun, dass sich unsere klassischen sozialen Milieus auflösen und die Gesellschaft stark individualisiert ist. Die Leute schauen, welche Partei mit ihren Angeboten gerade besonders passt. In Ostdeutschland zeigt sich das besonders deutlich, weil westdeutsche Parteien dort selten eine starke Identifikation aufbauen konnten.
Warum profitiert die AfD so sehr von dieser Entwicklung?
Wir leben in einer Gesellschaft, die viele Krisen erlebt und erlebt hat. Je größer die Verunsicherung in der Gesellschaft ist, umso eher gelingt es Parteien wie der AfD, an Boden zu gewinnen. Die AfD hat einige Punkte, die sie für Wähler attraktiv machen. Sie tritt im Gegensatz zu den Ampelparteien vergleichsweise geeint auf, verfolgt einen kompromisslosen Kurs und bietet sehr einfache, vermeintlich schnelle Lösungen auf sehr komplexe Fragen.
In Gelsenkirchen feierte die AfD bei den EU-Wahlen Erfolge. Droht ein AfD-Oberbürgermeister?
In NRW gibt es auch Strukturen, die die Menschen anfälliger für populistische Parteien machen. Das gilt für das nördliche Ruhrgebiet, aber nicht nur. Auch im ländlichen Raum von NRW sehen wir Erfolge der AfD. Es geht oft um Menschen, die verunsichert sind und sich nicht genug gesehen fühlen mit ihren Problemen.
In der Pandemie und beim Ukraine-Krieg wird die jeweils andere Meinung dämonisiert. Drängen wir Menschen in die Arme der Populisten?
In der Gesellschaft gibt es tatsächlich mehr und mehr die Unfähigkeit, die Position des anderen zu verstehen. Das ist Teil einer Polarisierung, die wir sehr deutlich und schon vor der Corona-Zeit beobachtet haben. In der Pandemie trafen Positionen fast dogmatisch aufeinander. Populistische Parteien befeuern das und profitieren von dieser Entwicklung. Eine Strategie der AfD war ja früh, die Glaubwürdigkeit der Medien infrage zu stellen und so eine Gegenöffentlichkeit in den sozialen Medien aufzubauen, in der stark polarisiert wird. Mit Erfolg, wenn man auf die EU-Wahlergebnisse bei Jungwählern guckt.
Hochrangige Politiker entgegnen, dass man bestimmte Menschen nicht mehr erreichen kann, weil sie ihnen nicht glauben.
Wir sprechen hier in NRW bei den AfD-Wählern nicht über die Mehrheit der Gesellschaft. Es geht um ein Segment, das droht, sich zu verschließen. Viele dieser Menschen sind schwer zu erreichen, ja, das sind die Einstellungswähler. Aber es gibt eine Grauzone, Menschen, die in der AfD-Wahl eher einen Protest sehen. Um die muss es gehen.
Wie?
In NRW ist die Partei nur bedingt auf einem Siegeszug. Es gibt Wahlergebnisse in bestimmten Regionen, ja, aber die Erfolge schwanken sehr stark. Man muss also schauen, was dazu führt, dass sie in bestimmten Regionen weniger gut aufgestellt ist. Oft hängt es an starken kommunalen Gesichtern der anderen Parteien. In diesem Wählermarkt müssen die Parteien gute personelle Angebote haben und die Themen identifizieren, die Verunsicherung steigen lassen – und diese Themen angehen. Das gilt besonders für das Thema Migration, mit dem die AfD von Anfang an mobilisieren konnte.
Wie sehr ist die Stärke der AfD auch die Schwäche der SPD?
In NRW ist es für die SPD sehr schwer geworden, weil sich die CDU in NRW mit einem sehr präsenten Ministerpräsidenten und auch als eine Art Arbeiterpartei profiliert. Im Prinzip fehlen der SPD eine Identifikationsfigur und ein zentrales Thema.