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Ein-Mann-HerrschaftNeue Verfassung in Tunesien beendet den Arabischen Frühling

Lesezeit 3 Minuten
Kais Saied Anhänger 280722

Anhänger des tunesischen Präsidenten Kais Saied feiern am Abend nach dem vorläufigen Ergebnis des Verfassungsreferendums in Tunesien.

Istanbul/Tunis – Das Ergebnis passt zu einer Autokratie: In Tunesien haben nach Angaben von Demoskopen mehr als 90 Prozent der Teilnehmer bei einer Volksabstimmung für die von Präsident Kais Saied gewünschte neue Verfassung gestimmt. Die Beteiligung lag zwar bei weniger als 30 Prozent der neun Millionen Wähler, doch das kümmert Saied nicht: Er genießt ab sofort diktatorische Vollmachten.

Seine „neue Republik“ begräbt die Demokratie in Tunesien und damit die Hoffnungen des Arabischen Frühlings, der einst in dem kleinen Land in Nordafrika begann.

Siegreicher Aufstand vor elf Jahren

Vor elf Jahren verjagten die Tunesier den Diktator Zine El Abidine Ben Ali und bauten eine Republik auf, wie sie die arabische Welt noch nicht gesehen hatte: freie Wahlen, freie Meinungsäußerung, eine florierende Zivilgesellschaft. Die internationale Gemeinschaft würdigte dies 2015 mit dem Friedensnobelpreis für das „Nationale Dialog-Quartett“ aus Gewerkschaften, Arbeitgebern, Menschenrechtlern und Anwälten.

Der siegreiche Aufstand setzte in der Region die Kettenreaktion von Protesten in Gang, die als Arabischer Frühling bekannt wurde. Doch nur in Tunesien gelang der Übergang zur Demokratie. Das benachbarte Libyen beendete zwar die Diktatur von Muammar Gaddafi, versank dann aber in einem Bürgerkrieg, der immer noch schwelt. In Ägypten stürzte das Volk den langjährigen Autokraten Hosni Mubarak, doch wenig später putschte sich General Abdel Fattah el-Sisi an die Macht; er hält sie bis heute fest.

In Syrien konnte sich Staatschef Baschar al-Assad mit Hilfe Russlands vor der Niederlage im Bürgerkrieg retten. Im Jemen tobt seit sieben Jahren ein Stellvertreterkrieg, bei dem Saudi-Arabien und der Iran ihre Rivalität austragen. Die Herrscher der reichen Golf-Monarchien schlugen einen Aufstand in Bahrain nieder und sitzen heute fester im Sattel denn je.

Mehr Freiheit, aber nicht mehr Jobs und Wohlstand

In dieser Zeit hätte die tunesische Politik zeigen können, wozu eine Demokratie fähig ist. Doch sie verpasste die historische Chance. Wirtschaftlich ging es nicht voran, alte Strukturen aus der Zeit der Diktatur behaupteten sich, die aufgeblähte Bürokratie bremste Ansätze von Reformen aus: Die Demokratie brachte den Bürgern zwar Freiheit, aber nicht mehr Arbeitsplätze und Wohlstand.

Kais Saied, Präsident von Tunesien, hält wehrend der Ver­ei­di­gungs­ze­re­mo­nie der neuen Regierung im Palast der Republik eine Rede.

Das öffnete dem Populisten Saied den Weg an die unbeschränkte Macht. Als der frühere Juraprofessor voriges Jahr im Handstreich das Parlament auflöste, applaudierten die meisten Tunesier, die von den Machtspielchen der Politiker in Tunis die Nase voll hatten. Die Opposition konnte sich nicht auf eine gemeinsame Linie gegen den Präsidenten einigen.

Saied warf Europarats-Kommission aus dem Land

Im klassischen Stil des „starken Mannes“ versprach Saied den Wählern vor dem Referendum, er werde alle ihre Probleme lösen, wenn er nur genug Befugnisse erhalte. Nun hat er sein Ziel erreicht. Die neue Verfassung entmachtet Parlament, Regierung und Justiz zugunsten von Saied, der als Präsident sogar die eigene Amtszeit verlängern kann.

Als eine Kommission des Europarats den Verfassungsentwurf kritisierte, ließ Saied ihre Mitglieder aus dem Land werfen. Er dürfte nun zum Kronzeugen von Sisi, Assad und Co.: Sie können ab sofort auf Tunesien verweisen – als Beweis dafür, dass Demokratie nur Instabilität und Chaos bringt.

Junge Läute flüchten vor Saieds Ein-Mann-Herrschaf

Das wirkliche Chaos könnte allerdings erst jetzt richtig beginnen. Führende Parteien in Tunesien wollen die neue Verfassung nicht anerkennen, ein Boykott der für Dezember geplanten Parlamentswahlen ist angedacht. Wenn Saied mit seinem neuen Präsidialsystem dem Land keine raschen Erfolge in der Wirtschaftspolitik bringt, könnten sich viele Wähler, die beim Referendum mit Ja stimmten oder zu Hause blieben, gegen ihn wenden.

Bisher ist Saied nicht mit überzeugenden Rezepten aufgefallen, um strukturelle Probleme, Massenarbeitslosigkeit, soziale Spannungen oder die Folgen des Klimawandels zu bekämpfen. Viele junge Leute wissen das. Sie warten nicht ab, sondern suchen ihr Glück in Europa. Schon jetzt stellen die Tunesier eine der größten nationalen Gruppen von Flüchtlingen, die über das Mittelmeer in den Häfen Italiens ankommen. Nach dem Referendum für Saieds Ein-Mann-Herrschaft dürften es bald noch mehr werden.