Sind Vergewaltigungen zwar „schauerlich und grässlich“, aber normaler Teil eines Krieges? So hat Sahra Wagenknecht argumentiert – und eine heftige Debatte ausgelöst.
Nach Wagenknecht-Äußerung und #klamrothluegtWie steht es in Sachen Menschenrechte um die Ukraine?

Ukrainische Soldaten nehmen an einer militärischen Übung teil.
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Auf sozialen Medien grassiert der Hashtag #klamrothluegt, denn ARD-Moderator Louis Klamroth hatte Wagenknecht in der Sendung „hart aber fair“ widersprochen und gesagt, es gebe keine Belege dafür, dass ukrainische Soldaten solche Taten begangen hätten.
Gibt es Vergewaltigungen durch ukrainische Truppen?
Drei Tage nach der Sendung verbreitete Wagenknecht einen Auszug aus einem ARD-Faktencheck, in dem es heißt: „Mittlerweile ist uns ein Bericht der UN-Menschenrechtskommissarin aus dem Juli 2022 bekannt, in dem auch sexualisierte Gewalt auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet berichtet wird.“ Dieser „Report on the Human Rights Situation in Ukraine“, der Menschenrechtsverletzungen vom Tag des russischen Überfalls bis zum 31. Juli dokumentiert, lastet ukrainischen Soldaten und Polizisten tatsächlich zwei sexuelle Übergriffe an. Allerdings sind das – Klamroth hat also Recht – keine Vergewaltigungen, sondern ein Fall der Bedrohung mit sexueller Gewalt und ein Fall des erzwungenen Entkleidens in der Öffentlichkeit.
Weitere elf Fälle – allesamt erzwungenes Entkleiden – wurden von den UN damals nicht eindeutig zugeordnet (Zivilisten oder „Territorialverteidigungskräfte“), 30 Fälle werden den Besatzern zugeschrieben. Darunter sind neun Vergewaltigungen – auch die eines Kindes – und 15 Fälle der sexuellen Misshandlung von Männern als Teil der Folter. Ein „Update“ aus dem Dezember (Stand der Berichterstattung: 31. Oktober) erwähnt 86 Fälle sexueller Gewalt, überwiegend von russischen Truppen und russischen Sicherheitskräften begangen, in einem Fall auch in einer Haftanstalt auf russischem Boden. Bei der Mehrheit der Fälle (53) handelte es sich um sexuelle Misshandlung als Foltermethode.
Wichtig: Die UN-Reports erwähnen nur Fälle, die das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte selbst dokumentiert hat. Sie zeigen also einen Ausschnitt des Geschehens, nicht das Gesamtbild. In den noch russisch besetzten Landesteilen sind unabhängige Ermittlungen nicht möglich.
Wie ist die Menschenrechtslage insgesamt?
Vergewaltigungen und andere sexuelle Übergriffe sind nur ein Beispiel der Gewalttaten, die Zivilisten im russisch-ukrainischen Krieg erleiden – und die UN-Berichte sind auch hier eindeutig: Täter sind im ganz überwiegenden Teil der Fälle russische Besatzer. Zu den schwersten Verbrechen gehören die von den Besatzern verübten Massaker in den Kiewer Vororten. Bis Ende Juli wurden hier 1346 Leichen gefunden – viele von ihnen Opfer von Exekutionen, teilweise mit Folterspuren. Über 900 Leichen von Zivilisten wurden nach dem Abzug der Russen aus Teilen der Region Charkiw im Herbst gefunden. Allerdings legen die UN auch der ukrainischen Seite die Tötung vermeintlicher „Verräter“ zur Last, nennen hier aber weder Zahlen noch Tatorte oder einzelne konkrete Geschehnisse. Bekannt ist aber, dass immer wieder von den Russen eingesetzte Funktionäre Ziel von Anschlägen vermutlich ukrainischer Partisanen werden, etwa im August der von Russland eingesetzte Verwaltungsvize von Nowa Kachowka, Witali Gura.
Die UN haben vom 24. Februar 2002 bis zum 27. Februar 2023 insgesamt 8101 getötete und 13 497 verletzte Zivilisten erfasst. Darunter waren 1844 Todesopfer und 2440 Verletzte in Gebieten, die zum Zeitpunkt des Geschehens russisch besetzt waren. Nicht in jedem Fall handelt es sich aber um Folgen von Kriegsverbrechen, also etwa von gezielten Angriffen auf Wohngebiete wie zuletzt, im UN-Bericht noch nicht berücksichtigt, die von Russland verübte Zerstörung eines Wohnhauses in Saporischschja. Die ukrainischen Behörden untersuchen nach Angaben von Olena Selenska, der Ehefrau des Präsidenten, 171 sexuelle Gewalttaten der Besatzer. 39 Opfer seien Männer gewesen, 13 Opfer Kinder oder Jugendliche.
Zu den schwersten russischen Kriegsverbrechen gehört das Bombardement des Theaters von Mariupol, in dem Zivilisten Schutz gesucht hatten. Nach Recherchen der Nachrichtenagentur ap starben hier am 16. März 2022 bis zu 600 Menschen. Die russischen Besatzer haben das Gelände planiert, eine Untersuchung am Ort ist nicht möglich. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation gab es seit Kriegsbeginn bis Ende Februar allein 764 russische Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen. Human Rights Watch zählt 2700 beschädigte und zerstörte Schulen und Erziehungseinrichtungen. Über 10 Millionen Haushalte – und damit rund die Hälfte aller ukrainischen Haushalte – war durch gezielte russische Angriffe auf die zivile Infrastruktur zeitweise ohne Strom und Wasser. Der ukrainischen Seite wirft Human Rights Watch den Einsatz von Antipersonenminen in der Schlacht um Isjum im letzten Herbst vor. Solche Minen setzt auch das russische Militär regelmäßig ein.
Sind Kriegsverbrechen also der Normalfall?
Sicher komme es in jedem Krieg zu Kriegsverbrechen, schreibt der Münchner Sicherheitsexperte Carlo Masala auf Twitter: Die Frage sei aber, ob sie systematisch begangen würden. Das ist bei den russischen Besatzen offensichtlich der Fall. Human Rights Watch bilanziert: „Wir haben Belege für von der Ukraine begangene Menschenrechtsverletzungen, aber wichtig ist, dass die ukrainische Regierung bereit ist, unseren Berichten nachzugehen – anders als Russland.“
Bereits am 8. Februar hatte der russische Präsident Wladimir Putin gegenüber seinem französischen Kollegen Emmanuel Macron mit Bezug auf die Ukraine ein russisches Soldatenlied zitiert: „Ob's dir gefällt der nicht, du wirst dich fügen müssen, meine Schöne!“ Putin stellte somit den geplanten Überfall auf die Ukraine als Vergewaltigung dar, gegen die zu wehren sich zwecklos sei – und setzte damit das Narrativ, das Gegner der westlichen Ukraine-Hilfe bis heute weitererzählen: Das Opfer ist an seinem Leiden selbst schuld, weil es sich ja wehrt, obwohl es keine Chance hat. Wenn man die Kriegsverbrechen beenden wolle, müsse man den Krieg beenden, sagte Wagenknecht logischerweise.
Dabei übersieht sie aber, dass viele dieser Verbrechen – gerade auch die Sexualverbrechen – nicht an der Front, sondern hinter der Front begangen werden. Sie sind Teil der Besatzungsherrschaft, nicht der Kämpfe. Diese Besatzungsherrschaft würde weitergehen und möglicherweise auf weitere Landesteile ausgedehnt, auch wenn die Ukraine ihren Widerstand aufgäbe.
Erst am 2. März gab das von der EU, Großbritannien und den USA unterstützte „Mobile Justice Team“ des britischen Rechtsanwalts Wayne Jordash Ergebnisse einer Untersuchung im befreiten Teil des Gebiets Cherson statt. Allein dort hatten die Besatzer mindestens 20 Folter-Einrichtungen betrieben, verantwortlich unter anderem der Geheimdienst FSB und die russische Gefängnisbehörde. Mehr als 1000 Folteropfer allein aus diesem Gebiet sagten aus und berichten unter anderem von Elektroschocks und simuliertem Ertränken. 400 Menschen werden hier noch vermisst. Ähnliche Berichte gab es zuvor aus dem Raum Charkiw, auch hier wurden zahlreiche Folterstätten entdeckt. Erst am Freitag wurde bekannt, dass die Besatzer erneut 200 Menschen aus dem besetzten Teil Chersons zu „Filtrationsmaßnahmen“ verschleppt haben, also zu Verhören, bei denen regelmäßig Folter angewendet wird.
Die russischen Besatzer haben allein rund 6000 Kinder aus den besetzten Gebieten deportiert und teilweise zur Adoption freigegeben, einige davon wurden zum Jahrestag der russischen Invasion im russischen Staatsfernsehen vorgeführt. Die UN berichten auch von anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in der bereits seit 2014 annektierten Krim. Auch im Donbass setzten die moskauhörigen Rebellen seit 2014 auf willkürliche Inhaftierungen, Folter und Mord. Die Idee, die Gewalt werde enden, wenn die Ukraine sich unterwerfe, dürfte also verfehlt sein.
Zwei dokumentierte Fälle
Zwei von den UN dokumentiere Beispielfälle: Im März 2022 überfielen russische Soldaten bei Kiew eine Familie. Sie vergewaltigten die Ehefrau mehrfach, schlugen ihren Mann und zwangen ihn, vor ihren Augen auf dem Körper seiner Frau sexuelle Handlungen zu vollziehen. Im Nachbarraum schrie die vierjährige Tochter und berichtete später ihren Eltern, die Soldaten hätten ihr „Weh, weh gemacht“ – offenbar sexueller Missbrauch.
Im Juni nahmen die Besatzer einen ukrainischen Fahrer an einem Kontrollpunkt in der besetzten Region Cherson fest, fanden auf seinem Handy ein Foto von ukrainischen Trachten, schlugen ihn zusammen und drohten ihm, ihn zu vergewaltigen. Der Mann kam am Folgetag frei und wird durch die erlittenen schweren Verletzungen voraussichtlich sein Leben lang behindert bleiben. (rn)