Gefoltert, beschossen, begrabenUkrainer erzählt seine ungeheure Überlebensgeschichte

Ein Grab in der Ukraine (Symbolbild)
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Dovzhyk – Die Geschichte, die Mykola Kulichenko detailreich erzählt, klingt so unglaublich, dass man sie kaum glauben mag: Am Rand einer abgelegenen Straße in der nördlichen Region Tschernihiw in der Ukraine zeigt Kulichenko ein nicht gekennzeichnetes Grab, in dem er und seine beiden Brüder dreieinhalb Wochen nach Kriegsbeginn von russischen Streitkräften begraben wurden.
Jedem von ihnen sei eine Kugel in den Kopf gejagt worden. Kulichenko, so erzählt er es, hatte unvorstellbares Glück, er überlebte. „Es ist wie eine Auferstehung“, sagt der 33-jährige Ukrainer gegenüber CNN.
Zugetragen haben soll sich die Geschichte am 18. März. Zu diesem Zeitpunkt sei das Dorf Dovzhyk, rund 300 Kilometer nordöstlich von Kiew liegend, in dem Kulichenko mit Brüdern Yevhen und Dmytro sowie seiner Schwester Iryna lebte, bereits seit rund drei Wochen von russischen Truppen besetzt gewesen, erzählt der Mann.
Für die Familie Kulichenko interessierte sich demnach aber niemand – bis eine russische Kolonne bombardiert wurde – und die russischen Soldaten die Drahtzieher suchte.
Russische Soldaten verschleppen Mykola und seine Brüder
Mykola Kulichenko schildert, wie drei russische Soldaten ihr Haus durchsuchten und misstrauisch geworden seien, als sie Munition sowie die Uniform des Großvaters inklusive Militärabzeichen in einer Tasche seines Bruders Yevhen fanden. Es ist der Beginn eines Martyriums. Drei Tage werden sie laut Kulichenkos Aussagen verhört, dann beginnt die Folter. „Sie haben mit einer Metallstange auf meinen ganzen Körper geschlagen und mir den Lauf einer Waffe in den Mund gesteckt“, sagt er.
Bis zum Bewusstseinsverlust seien die Brüder gefoltert worden, dann habe man sie gefesselt, ihnen die Augen verbunden und sie in ein Militärfahrzeug gesetzt. Fünf russische Soldaten hätten sie an einen abgelegenen Ort gebracht und angefangen eine Grube auszuheben.
Hinrichtungen auf offenem Feld
Zuerst habe er einen Schuss hinter sich gehört, erzählt Mykola Kulichenko, darauf sei der 36-jährige Dmytro, der älteste der drei Geschwister, zu Boden gefallen. Yevhen wird der Erzählung nach als nächstes hingerichtet. „Ich dachte, ich wäre der Nächste“, erinnert sich Kulichenko, aber die Kugel sei in seiner Wange eingetroffen und neben seinem rechten Ohr wieder ausgetreten. In diesem Moment beschließt er, sich tot zu stellen – weil er darin seine einzige Überlebenschance sieht.
Im Anschluss hätten die russischen Männer ihn und seine Brüder in die Grube gelegt und diese mit Erde bedeckt. Wie lange er lebendig begraben dort lag, vermag er nicht abzuschätzen. Irgendwie sei es ihm schließlich gelungen, die Fuß- und Beinfesseln zu lösen, den leblosen Körper seines Bruders beiseite zu schieben und sich freizugraben.
Zeugin schildert, wie Schwerverletzter bei ihr Hilfe sucht
„Es war schwer für mich zu atmen, da Dmytro auf mir lag, aber mit meinen Armen und Knien konnte ich meinen älteren Bruder an die Seite der Grube schieben, und dann kletterte ich heraus", schildert der traumatisierte Ukrainer den Vorgang.
Anschließend sei er auf der Suche nach Hilfe im Dunkeln durch Felder marschiert, schließlich sei er bei einem Haus angekommen, deren Bewohnerin Ersthilfe leistete und ihn über Nacht versorgte.
Die Frau namens Rydia gilt als wichtige Zeugin. Laut ihren Aussagen konnte ihr schwerverletzter Besucher kaum essen, weil die Kugel eine Austrittswunde in der Nähe seines Mundes hinterlassen hatte. „Blut tropfte von seinem Ohr auf den Tisch“, sagt sie gegenüber dem Wall Street Journal. Es fiel ihr schwer zu verstehen, was er sagte, aber er habe ihr die Geschichte sofort erzählt.
Kulichenko will Geschichte erzählen, um Kriegsverbrechen publik zu machen
Am nächsten Tag sei er zurück in sein Dorf gewandert, wo die Schwester, die am 18. Mai durch Zufall nicht im Haus gewesen war, ihn empfing. „Ich kam nach Hause und da war Mykola. Ich sah ihm in die Augen und fragte, wo die anderen sind? Er sagte, es gibt keine anderen“, erinnert sich Iryna im Gespräch mit CNN.
Nun wolle er seine Geschichte erzählen, sie solle „von allen gehört werden, nicht nur in der Ukraine, sondern auf der ganzen Welt, denn solche Dinge passieren“.
Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Kriegsverbrechen
Die Staatsanwaltschaft der Region Tschernihiw hat inzwischen Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen eingeleitet. Die Ermittler bestätigten gegenüber CNN, dass die Leichen der gefesselten Brüder gefunden worden seien. Sie halten deswegen die Erzählung von Mykola Kulichenko für glaubhaft.
Die Geschichte von Kulichenko, dessen Schusswunde deutlich sichtbar ist, wurde laut Recherchen des Wall Street Journal von ukrainischen Beamte und Familienmitgliedern bestätigt.
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Als sich die russischen Truppen Anfang April aus der Region Tschernihiw zurückzogen, begann Kulichenko die Leichen seiner Brüder zu suchen und seine Geschichte zu erzählen. Mittlerweile seien Dmytro und Yevhen in einem richtigen Grab beigesetzt worden.