Rechtsextremer Mordfall LübckePolizei geht Hinweisen auf mögliche Komplizen nach
- Der Mord an Kassels Regierungspräsident Lübcke hatte einen rechtsextremistischen Hintergrund.
- Am Tag nach dieser Erkenntnis äußern sich Innenminister Seehofer und die Chefs von BKA und Verfassungsschutz.
- Und am Abend kommen Zweifel an der Theorie des Einzeltäters auf.
Berlin – Die bitterste Erkenntnis am Tag nach der Bestätigung rechtsextremistischer Motive für den Mord an Kassels Regierungspräsident Walter Lübcke hält Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang bereit: „Angesichts der Dimension der Bedrohung durch den Rechtsextremismus sind wir noch nicht wirklich in der Lage zu sagen: Wir beherrschen diese Bedrohung vollständig.“ 12.700 gewaltbereite Rechtsextremisten haben die Sicherheitsbehörden auf ihrer aktuellen Liste. Die ist so lang, dass sie nicht jeden Einzelnen im Blick behalten können. Und Stephan E., der mutmaßliche Mörder Lübckes, gehörte offenbar nicht einmal dazu.
Der letzte Eintrag über verdächtiges Treiben des einschlägig rechtsextremistisch Kriminellen datiert von 2009. Und dass die Hinweise auf ihn nach so langer Zeit der Unauffälligkeit nicht längst gelöscht sind, liegt an einer rechtsterroristischen Mordserie: Weil parlamentarischen Untersuchungen zum NSU-Terrornetzwerk noch laufen, haben die Behörden die gesetzlich vorgeschriebenen Löschungen im Bereich des Rechtsextremismus ausgesetzt.
Fragen über Fragen – keine Antworten
Hatte der mutmaßliche Mörder Lübckes auch aktuell Kontakt zur Dortmunder Rechtsextremisten-Szene? Nahm er selbst an Schießübungen im Ausland teil? Wussten die Behörden von seinen Drohungen unter Pseudonym auf Youtube, es werde „Tote geben“, wenn diese Regierung nicht abdanke? Gab es Verbindungen zur rechtsterroristischen Kampfgruppe „Combat 18“, dem militärischen Arm jenes verbotenen Blood-and-Honour-Netzwerkes, das den NSU-Tätern Schutz gewährt haben soll? War er also selbst in ein Netzwerke eingebunden oder handelte er allein?
Die Akte
Etliche Gewalttaten weist die Akte des Tatverdächtigen Stephan E. auf. Unter anderem:
Im November 1992 sticht er in Wiesbaden auf einen Ausländer ein. Im Dezember 1993 misslingt ihm ein Rohrbombenschlag auf ein Asylheim in Hessen. Im Januar 1994 greift er in der U-Haft einen Mithäftling mit einer selbst gebastelten Waffe an. Zusammen sechs Jahre Jugendhaft.
Am 1. Mai 2009 ist er an Neonazi-Krawallen in Dortmund beteiligt: Sieben Monate auf Bewährung.
Zu all diesen Fragen gab es am Dienstag von den Behörden noch keine Aussagen. Die Ermittlungen gingen in alle Richtungen, erklärte Bundesinnenminister Horst Seehofer. Nach Medienberichten knüpft das an angebliche Zeugenaussagen an, wonach sich zwei Autos schnell vom Tatort entfernt hätten. Das BKA und der Verfassungsschutz unterstützten das ermittelnde Landeskriminalamt dabei, die Kontakte von E. abzuklären. Dieser verweigere die Aussage, berichtete BKA-Präsident Holger Münch. Die Tatwaffe sei noch nicht gefunden worden.
Unauffällig, freundlich und ruhig
Jedenfalls handelt es sich nicht um eine des Schützenclubs Sandershausen, in dem E. Mitglied war. Er hätte dort nur unter Aufsicht schießen können, da er keine Waffenbesitzerlaubnis hat, davon habe er jedoch keinen Gebrauch gemacht, berichtete Vereinspräsident Reiner Weidemann. Er beschrieb E. als unauffällig, freundlich und ruhig - und für die Bogenschützen des Vereins zuständig.
Eine Reihe von Tweets zu den Äußerungen Lübckes und zur Reaktion auf seine Ermordung sind in den letzten Tagen gelöscht worden. Auffällig war die besondere Zurückhaltung der AfD, die bei Gewalttaten ansonsten oft binnen Sekunden reagiert. Dieses Mal brauchte sie bis Dienstag Mittag für die Distanzierung von „extremistischer Gewalt in jeder Form“. Zuvor hatte sie bereits dementiert, von E. eine Spende erhalten zu haben.
„Klammheimlich gefreut“
Nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Werner Patzelt wird durch den Mord „hoffentlich allseits die Sensibilität dafür wachsen, dass man es beim politischen Streit auch schon in der Wahl der Worte nicht so weit kommen lassen darf, dass am Ende Motivation für einen Mord entstehen kann“. Dass die AfD so lange brauchte für eine eindeutige Stellungnahme führt Patzelt darauf zurück, dass die Partei aus zwei Strömungen bestehe. Während die einen sich „klammheimlich gefreut“ hätten, seien die anderen schamrot geworden. Am Ende habe jedoch auch die AfD begriffen, „welche Ungeheuerlichkeit da geschehen ist“. Der politische Mord könne auch weitere Auswirkungen auf die Partei haben. „Es wäre sehr zu begrüßen, wenn sich die Staatstragenden in der AfD unter Bezug auf den Mord nun besser gegen die Demagogen in ihrer Partei durchsetzen könnten“, erklärte Patzelt.
In den sozialen Netzwerken wurde auch eine Stellungnahme von CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer zum rechtsextremistisch motivierten Mord an ihrem Parteifreund zunächst vermisst. Am späten Dienstagnachmittag äußerte sich die Parteivorsitzende in einer Presseerklärung schockiert vom gewaltsamen Tod Lübckes. Sie habe Vertrauen in die Arbeit der Ermittler und appellierte: „Unsere Gesellschaft darf niemals schweigen gegenüber rechtsextremistischem Hass und rechter Hetze.“