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Mindestens 100 EuroTafel-Chef fordert Corona-Soforthilfe für Arme

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Geldscheine groß

Symbolbild 

  1. Der Bund hat Milliarden an Corona-Soforthilfen zur Rettung von Unternehmen ausgegeben.
  2. Tafel-Chef Jochen Brühl fordert solche Hilfen auch für arme Menschen: mindestens 100 Euro im Monat.

Herr Brühl, nun sind wir in der mittlerweile vierten Corona-Welle. Welche Auswirkungen hat das auf die Arbeit der Tafeln?

Ich will es mal mit einer Gemütsbeschreibung versuchen. Es herrscht große Müdigkeit. Die Kunden sind müde. Die Helfer sind müde. Ich bin müde. Im vergangenen Corona-Winter habe ich mich ja noch aufgeregt, dass in der Pandemie die Menschen mit wenig Geld vergessen werden. In diesem Winter passiert genau das wieder. Das frustriert. Nur, dass wir jetzt auch noch in einer Phase sind, wo neben den Ausgaben für Masken, Tests und so weiter auch ganz allgemein die Preise steigen. Die Inflation ist für arme Menschen eine echte Bedrohung.

Tafel-Chef Jochen Brühl 

Was tun?

Die Regierung muss Corona-Soforthilfen für armutsbetroffene und -bedrohte Menschen auf den Weg bringen. Sofort. Nicht irgendwann. Da reichen keine 20 bis 25 Euro aus, das müssen kurzfristig mindestens 100 Euro im Monat sein. Jene Menschen sind finanziell und oft auch psychisch am Limit. Wir reden hier ja nicht über Menschen, die faul sind und sich um Arbeit drücken. Nein, viele Empfänger von Hartz-IV sind Aufstocker. Sie arbeiten, kommen aber trotzdem nicht über die Runden. Derzeit angesichts der Inflation noch weniger. Ob Bürgergeld oder Arbeitslosengeld II: Künftige Regelsätze müssen deutlich steigen.

Die Tafeln

Bundesweit gibt es mehr als 950 Tafeln – gemeinnützige Hilfsorganisationen, die in ihrer jeweiligen Kommune Lebensmittel an Bedürftige ausgeben. Ihr Dachverband ist die Tafel Deutschland e.V. in Berlin, deren Vorsitzender Jochen Brühl ist. Die Waren werden von Tausenden Händlern und Herstellern gespendet. Die mehr als 60000 ehrenamtlichen Mitarbeiter der Tafeln verteilen sie über mehr als 2000 Ausgabestellen, vor allem in sozialen Einrichtungen.

Die Lebensmittel sind in der Regel als unverkäuflich aussortiert, weil sie kurz vor dem Ablaufdatum stehen, weil die Verpackung beschädigt ist oder sie sonstige kleinere Mängel haben. Wer die Tafeln nutzen will, muss nachweisen können, dass er wenig Geld hat und bedürftig ist – etwa mit einem Hartz-IV-Bescheid. Etwa 1,65 Millionen Menschen zählen derzeit deutschlandweit zum Kundenkreis – Arbeitslose und Geringverdiener , Alleinerziehende und Rentner, Migranten und Studenten. (gie)

Wirkt sich Corona auf die Zusammensetzung der Tafel-Kunden aus?

Da finden Veränderungen statt. Wir können sehen, wer in der Pandemie unzureichende oder zu späte Hilfen bekommen hat: Viel mehr Studenten, aber auch Menschen aus der Gastro-Szene oder aus dem Kultursektor kommen nun zu den Tafeln. Die haben nie damit gerechnet, solche existenziellen Sorgen durchleben zu müssen. Aber nun haben sie entweder gar kein Einkommen mehr oder befinden sich seit Monaten in Kurzarbeit. Der Anteil der Kurzarbeiter an den Tafel-Kunden ist enorm gestiegen. Bei den älteren Menschen verzeichnen viele Tafeln derweil einen Rückgang.

Wieso das?

Sicher nicht, weil sie plötzlich nicht mehr arm sind. Diese Armut existiert ja fort, sie verschwindet nur aus dem Blickfeld, zieht sich sozusagen zurück in die eigenen vier Wände. Das betrifft eben besonders arme, einsame Menschen im fortgeschrittenen Alter. Tafel ist ja nicht nur Lebensmittelausgabe, sondern auch Treffpunkt derjenigen, die sonst nichts und niemanden haben. Gemeinsames Mittagessen, Seniorencafé… all solche Angebote müssen derzeit ausfallen. Das macht mir große Sorgen. Da sitzen jetzt viele alte Menschen zu Hause, die nicht mehr rauskommen, denen nicht nur Lebensmittel, sondern auch soziale Kontakte fehlen. Die vierte Corona-Welle ist auch eine Vereinsamungswelle.

In allen gesellschaftlichen Bereichen beobachten wir eine Spaltung in Befürworter und Gegner der Corona-Maßnahmen. Merken die Tafeln das?

Natürlich. Ziemlich deutlich sogar. Tafeln müssen zwar kein 2G umsetzen, weil wir vom Gesetzgeber wie Supermärkte behandelt werden. Aber: Bei uns arbeiten weit überwiegend Ehrenamtliche, viele von denen sind selbst in einer Corona-Risikogruppe. Wir sollten respektieren, wenn sie sich und andere während ihres freiwilligen Engagements schützen möchten und deshalb 2G- oder 3G-Regeln für ihre Kunden einführen.

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Und die Reaktion?

Das führt dann zu Anfeindungen aus dem Querdenker-Milieu, durchaus gesteuert und gar nicht mal von Menschen vor Ort. Das ist sehr belastend für die ehrenamtlichen Helfer. Ich würde mir wünschen, wir redeten weniger über jene Spalter, sondern mehr über diejenigen, die sich einsetzen und die Gesellschaft zusammenhalten. Das sind eben beispielsweise unsere ehrenamtlichen Helfer, die in der Corona-Krise genauso anpacken wie in der Flutkatastrophe in diesem Sommer. Aber es fragt niemand nach: Was braucht IHR eigentlich? Da geht es nicht um Bundesverdienstkreuze. Konzentrieren wir uns doch mal auf die Macher in dieser Gesellschaft.

Was brauchen Sie denn?

Wenn die Preise steigen, wird auch das Helfen teurer. Das gilt natürlich besonders bei den Spritpreisen. Gerade Tafeln auf dem Land müssen teils weite Wege zurücklegen, um die Lebensmittel einzusammeln. Das belastet die Einrichtungen finanziell enorm. Hier wünschen wir uns mehr Unterstützung von staatlicher Seite.

Tatsächlich wird es ja wohl eher so sein, dass im Zuge der Klimaschutz-Politik vieles teurer werden wird…

Das macht mir Sorge und deshalb kann man Sozialpolitik und Klimaschutz nicht getrennt voneinander denken. Menschen mit wenig Geld verursachen weniger CO2 und sind beispielsweise aufgrund ihrer Wohnlage im Durchschnitt stärker dadurch belastet. Sie haben gar nicht die Möglichkeit zu entscheiden, gesunde und klimaneutrale Lebensmittel zu konsumieren. Hier entsteht ein immer stärkeres Ungleichgewicht.