- Was wir jetzt dringend brauchen, sind Grundlagen für eine solide Bewertung der Modelle.
- Zusammenhalt und Solidarität sind jetzt wichtig.
- Aber vor allem müssen wir wach bleiben.
Berlin – Möglicherweise hat sich Angela Merkel an diesem Wochenende in ihrem Homeoffice für einen Moment erleichtert gefühlt. Sie kann für ihr Krisenmanagement bemerkenswerte Umfragewerte verbuchen. 89 Prozent der Deutschen bescheinigen der Bundesregierung laut ZDF-Politbarometer gute Arbeit. 95 Prozent halten die Maßnahmen zur Virusbekämpfung für angemessen. Das sind gute Noten – aber wofür eigentlich?
Die Umfrage-Ergebnisse spiegeln wohl vor allem wider, dass jetzt Entschiedenheit und Geschlossenheit gefragt sind und strikte Verhaltensregeln geradezu eingefordert werden – auch wenn sie extreme Einschränkungen bedeuten.
Ist das harte Durchgreifen notwendig?
Ob das harte Durchgreifen noch rechtzeitig kam oder zu spät, ob es wirklich notwendig war oder nicht, das wird sich wahrscheinlich erst bewerten lassen, wenn das Corona-Virus und seine epidemiologischen Auswirkungen vollständig erforscht sind.
Gab es überhaupt eine Alternative? Nach jetzigem Erkenntnisstand: Nein. Angesichts der dramatischen Entwicklung in Italien, Spanien, Frankreich und unter dem Eindruck der ungebremsten Ausbreitung der Infektion auch in Deutschland musste die Bundesregierung handeln. Die Kanzlerin und ihr Team waren geschickt genug, das öffentliche Leben in Stufen herunterzufahren und gleichzeitig Rettungsfonds für die Folgen der Maßnahmen bereitzustellen. Und jetzt?
Krise raubt unserem ganzen Land die wirtschaftliche und gesellschaftliche Kraft
Wie überleben wir dieses künstliche Koma? Disziplin, Zusammenhalt, Solidarität, das ist jetzt alles wichtig. Aber vor allem müssen wir wach bleiben. Die Corona-Krise setzt uns nicht nur der Angst um unsere eigene Gesundheit und unsere eigene Existenz aus. Sie raubt unserem ganzen Land die wirtschaftliche und gesellschaftliche Kraft. Und sie hat uns an einen Punkt gebracht, an dem wir wissen müssen, wie es weitergeht.
Was dazu an die Öffentlichkeit dringt, lässt uns aus dem künstlichen Koma aufschrecken. Gesundheitsminister Spahn, eigentlich ein stabiler Faktor im Kabinett, stellte erst in Aussicht, bis Ostern ein Konzept für den Ausstieg aus dem Ausnahmezustand zu erarbeiten, verbreitete aber schon am nächsten Tag Angst mit dem Satz, man befinde sich noch in der „Ruhe vor dem Sturm“.
Unverantwortliche Äußerungen von Spahn
Allein so eine Äußerung ohne weitere Erklärung ist unverantwortlich.Unklar ist, welche Linie die für Infektionskrankheiten zuständige Bundesbehörde, das Robert-Koch-Institut (RKI), verfolgt. Der Präsident äußerte sich vor einer Woche noch optimistisch, dass Auswirkungen der Kontaktsperre in der Statistik schon sichtbar seien, um zwei Tage später die düstere Prognose abzugeben, Deutschland sei erst am Anfang der Corona-Ausbreitung. Danach gab es gar keine RKI-Erklärung mehr.
Woher die Werte kommen, ist unklar
Die Kanzlerin schickte am Wochenende eine Audio-Botschaft aus der Quarantäne. Die Zahl der Neuinfektionen verdoppele sich derzeit alle 5 ,5 Tage, dies müsse sich verlangsamen, und „in Richtung zehn Tage“ gehen, damit das Gesundheitssystem nicht überfordert werde. Woher dieser Wert kommt und was das genau heißt, sagt sie nicht.
Laschet will eine Exit-Strategie
Gleichzeitig schließt Kanzleramtsminister Braun eine Lockerung der Maßnahmen vor dem 20. April aus, während NRW-Schulministerin Gebauer bereits davon spricht, nach den Ferien den Schulbetrieb wieder zu öffnen und Ministerpräsident Laschet fordert, jetzt schon über eine Exit-Strategie zu reden.
Ein Stimmengewirr, das die zentrale Frage überlagert: Können wir überhaupt über Exit-Konzepte reden, bevor wir wissen, wie sich die Virus-Ausbreitung entwickelt? Geht die Rechnung auf, die Kurve so abzuflachen, dass unser Gesundheitssystem die Krankheitsfälle über einen längeren Zeitraum verteilt verkraften kann? Unter welchen Bedingungen und wie lange?
Isolierung der Infizierten während das öffentliche Leben weitergeht
Oder ist es sinnvoller, wie in Südkorea konsequent auf Massentests, Überprüfung der Handydaten und Isolierung der Infizierten zu setzen, während das öffentliche Leben weitergeht? Dieses Szenario wird in einem vertraulichen Strategie-Papier des Innenministeriums durchgespielt. Voraussetzung sind weitreichende Datenkontrollen und eine Verdoppelung der Tests auf bis zu 200 000 am Tag.
Woher dafür Reagenzien, Pipettenspitzen und andere erforderliche Testbestandteile, die schon jetzt knapp sind, kommen sollen, ist allerdings unklar. Ebenso, ob die Zahl der Infizierten bei uns nicht möglicherweise schon zu hoch ist. Südkorea hat diesen Plan ganz am Anfang der Infektionswelle umgesetzt.
Was wir brauchen, sind Grundlagen für eine solide Bewertung
Die Maßnahmen gegen das Virus dürften nicht schlimmer sein, als die Krankheit, sagt der Epidemiologe Gérard Krause (Helmholtz-Zentrum Braunschweig). Das ist abzuwägen. Was wir dafür jetzt dringend brauchen, sind Grundlagen für eine solide Bewertung der verschiedenen Modelle.Wir müssen vor allem wissen, mit welcher Geschwindigkeit sich das Virus ausbreitet, wie hoch der Anteil an Infizierten ist, wie viele davon schwer erkranken, und wie viele Menschen schon immunisiert sind.
Breit angelegte Antikörper-Tests können Antworten geben
Antworten könnten breit angelegte Antikörper-Tests geben, wie sie sie das Helmholtz-Zentrum plant, aber auch die Datenauswertung im stark betroffenen Kreis Heinsberg sowie eine Ausweitung der Corona-Tests bei Verdachtsfällen.
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Wach bleiben heißt, die Politik – jetzt erst recht – kritisch zu verfolgen, Debatten anzustoßen, Entscheidungen zu hinterfragen, Konzepte und eine geordnete Kommunikation einzufordern. Das ist die Aufgabe der Medien, aber auch aller gesellschaftlichen Gruppierungen und letztlich jedes einzelnen. Denn mit strengem Regiment und dem Abräumen guter Umfragewerte ist die Politik – und sind wir alle – noch lange nicht durch die Krise.
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