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Initiative in NRW„Kurve kriegen“ soll jugendliche Intensivtäter verhindern

Lesezeit 7 Minuten
Kriminalhauptkommissar André Schumann, Polizei Duisburg, und Sozialwissenschaftler Markus Witalinski, Diakoniewerk Duisburg GmbH, sind Teil der Initiative "Kurve kriegen".

Der Polizist Andre Schumann (links) und Sozialwissenschaftler Markus Witalinski sind auf Duisburgs Straßen unterwegs, um jugendliche Täter auf einen geraden Weg zu bringen, bevor sie Intensivtäter werden.

Die Initiative „Kurve kriegen“ legt ihr Augenmerk auf Ressourcen - und auf Respekt. Deswegen wird auch niemand zur Teilnahme verpflichtet, sie erfolgt auf freiwilliger Basis oder eben nicht.

Clankriminalität ist eines der großen innenpolitischen Reizthemen in Nordrhein-Westfalen. „Wir tun alles, um die Leute aus krummen Geschäften herauszuholen und wieder auf die gerade Bahn zu bringen“, hatte Innenminister Herbert Reul (CDU) versprochen, als das Landeskriminalamt 2023 das Lagebild Clankriminalität vorstellte. Ein Ansatz dabei: Kinder und Jugendliche aus einschlägigen Großfamilien frühzeitig auf einen nicht-kriminellen Weg zu begleiten.

Gelingen soll das unter anderem durch die Initiative „Kurve kriegen“, die bereits 2011 in NRW startete und seit 2020 in ausgewählten Behörden den Fokus gezielt auch auf Jugendliche legt, die dem Clan-Spektrum zugeordnet werden. Von ihnen werden derzeit 27 über die Initiative begleitet, verteilt auf sieben Standorte im Ruhrgebiet. Einer von ihnen ist Duisburg, wo die Initiative seit 2011 läuft. Aktuell nehmen in Duisburg 33 Kinder und Jugendliche an der Initiative teil, fünf davon aus dem Umfeld von Clanfamilien.

Augenmerkmal bei „Kurve kriegen“ liegt auf Respekt

Zum achtköpfigen Duisburger Team gehören Kriminalhauptkommissar André Schumann und als pädagogische Fachkraft Sozialwissenschaftler Markus Witalinski von der Diakoniewerk Duisburg GmbH, die als freier Träger der Initiative Partner der Polizei ist und zwei Fachkräfte stellt, zwei weitere kommen von der Grafschafter Diakonie.

Nachdem in den Medien von einem „Aussteigerprogramm“ die Rede war, ist Schumann und Witalinski wichtig, zunächst eine Begrifflichkeit zu klären: „Es ist kein Aussteigerprogramm, denn es geht nicht um den Ausstieg aus den Clans, sondern um den Ausstieg aus einem kriminellen Milieu und einer kriminellen Karriere“, betont Schumann.

Die Initiative „Kurve kriegen“ legt ihr Augenmerk auf Ressourcen - und auf Respekt. Deswegen wird auch niemand zur Teilnahme verpflichtet, sie erfolgt auf freiwilliger Basis oder eben nicht - anders als etwa gerichtlich verordnete Anti-Gewalt-Trainings. „Den Aufschlag übernimmt die Polizei. Wir suchen die Familien zu Hause auf, äußern unsere Besorgnis, stellen die Initiative vor und machen ein Angebot“, so Schumann. Viele Eltern seien froh, dass die Polizei da sei, weil sie sich überfordert fühlen. „Die Jugendlichen hingegen schauen sparsam und verhalten“, schmunzelt er: „Sie wollen nicht, dass zu viele ihnen auf die Nerven gehen.“ Schließlich seien manche bereits mit anderen Stellen, etwa dem Jugendamt, in Kontakt.

Der Fokus des Programms liegt auf Mehrfachtäter

Anlass für ein solches Gespräch ist nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie. Nur, wer selbst durch eine Reihe von Delikten aufgefallen ist, kommt in die engere Auswahl. Etwa 1400 Minderjährige aus Duisburg, die Straftaten begangen hätten, seien auf einer regelmäßig aktualisierten Liste erfasst, erklärt Schumann. Das klingt viel, ist aber ein wenig zu relativieren: „Etwa 70 Prozent von ihnen begehen ein oder zwei Straftaten und lassen es dann sein.“ Der Fokus des kriminalpräventiven Programms liegt auf denen, die das Potenzial zum Intensivtäter haben oder bereits Mehrfachtäter sind. Ein Punktesystem sorgt dafür, dass Delikte entsprechend ihrer Schwere gewichtet werden. Auch, wie alt ein Täter ist und ob er oder sie bereits mehrfach auffiel, wird als Faktor in einer Berechnung berücksichtigt, die schließlich ein Ranking ergibt, an dem sich das Team orientiert.

Entschließen sich Kind und Eltern zur Zusammenarbeit mit dem Präventionsteam, dann übernehmen den weiteren Kontakt die pädagogischen Fachkräfte. „Die Familien können zu uns Vertrauen aufbauen, denn anders als die Polizei unterliegen wir nicht dem Strafverfolgungszwang, müssen also keine Delikte zur Anzeige bringen, die uns zur Kenntnis kommen“, so Witalinski. Ein direkter Austausch über die Teilnehmer erfolgt zwischen Polizei und Diakonie nicht, Personendaten werden codiert. Eine Einschränkung gibt es: Sollten die Pädagogen von geplanten schweren Taten erfahren, dann müssen auch sie - wie jede Zivilperson - diese anzeigen, um sich nicht selbst strafbar zu machen.

Wer an der Initiative teilnimmt, ist im Durchschnitt 13 Jahre alt - einige Kinder starten aber auch schon mit acht. Womit wird man in diesem zarten Alter polizeibekannt? Das Spektrum ist groß. „In einem Fall äußerte ein Achtjähriger Mordfantasien, die die Schulleitung ernst nahm“, erinnert sich Witalinski. So schlimm ist es nicht immer. Ein typisches Delikt ist das „Abziehen“ - also ein Opfer zu erpressen oder zu nötigen, um irgendetwas von ihm zu bekommen. „Dieses Verhalten wird mit dem Ausdruck ‚Abziehen‘ verniedlicht, aber im Fachjargon ist das ein Raub oder räuberische Erpressung“, stellt Schumann klar. Wer in jungen Jahren die Erfahrung macht, dass er seine Ziele auf diese Weise erreichen kann, hat ein erhöhtes Risiko, sich derselben Muster auch dann noch zu bedienen, wenn es nicht nur um ein paar Euro Taschengeld geht.

Teuer für das Opfer und das System

Ein jugendlicher Intensivtäter drangsaliert oder schädigt bis zu seinem 25. Lebensjahr statistisch gesehen rund 100 Opfer. Das ist nicht nur für die Betroffenen schlimm, sondern auch teuer für System und Gesellschaft: Die Folgekosten, die ein solcher Täter im gleichen Zeitraum verursacht, liegen im Durchschnitt bei 1,7 Millionen Euro. Dazu zählen unter anderem Personalkosten von Polizei, Ämtern und Gericht, Behandlungskosten der Opfer, eventuell auch Haftunterbringung - und die Ausfälle, die sich ergeben, etwa wenn Schulabbrecher keine Jobs ergreifen, nicht in die sozialen Systeme einzahlen. Den Angaben von „Kurve kriegen“ zufolge spart jeder Euro, der in die Initiative investiert wird, bis zu zehn Euro ein.

„Frühe Hilfe statt später Härte“, das ist das Motto der Initiative. Das Ziel ist es, gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen herauszufinden, welche Vorkommnisse oder Schwierigkeiten sie haben straucheln lassen und wie sie ihre Probleme auf legale Weise lösen können. Ob Teilnehmer aus einer Verwandtschaft mit oder ohne kriminelle Prägung stammen, spielt dabei keine Rolle.

Der Ablauf der zwei Jahre, die die Teilnahme üblicherweise dauert, folgt keinem starren Plan. „Wir schauen individuell, was gebraucht wird“, beschreibt Witalinski. Die Vermittlung von Nachhilfe kann ebenso dazu gehören wie ein Anti-Gewalt-Training oder auch erlebnispädagogische Unternehmungen - teils als Belohnung, teils, um den Blick für ein neues Freizeitverhalten zu öffnen. Alle werden einzeln betreut, zwischendurch gibt es aber auch die Möglichkeit, an Musik- oder Kunstworkshops teilzunehmen. Aus Graffitis, die Teilnehmer dabei mit einem Künstler zusammen gesprayt haben, wurde ein Kalender: klassische Ansätze der Pädagogik, die Jungen und Mädchen - in Duisburg sind aktuell 24 Prozent der Teilnehmer weiblich, landesweit in NRW sind es im Schnitt 17 Prozent - zeigen, dass man nicht nur durch Gewalt und Aggression Aufmerksamkeit bekommen kann, sondern auch durch positives Verhalten. Besonders ist, dass die Arbeit schon in so jungem Alter beginnt und nicht erst mit dem Beginn der Strafmündigkeit nach Jugendstrafrecht.

Wenn der Freundeskreis die kriminellen Aktivitäten unterstützt, kann auch das ein Thema sein. Hier gilt: „Wenn Kinder sich vom Freundeskreis lösen sollen, geraten sie in ein Dilemma. Besser ist es, wenn ein neuer Kreis dazukommt“, so Witalinski. Um etwaige romantische Vorstellungen vom Gangstertum zu entzaubern, arbeitet „Kurve kriegen“ mit Menschen zusammen, die selbst in Haft saßen und den Kindern oder Jugendlichen erzählen können, warum das keine tolle Erfahrung war.

Eltern wünschen sich für ihre Kinder etwas anderes

„Im besten Fall kommt es zu einer Verhaltensänderung, durch die auch die Freunde ihr Verhalten überdenken“, meint Schumann.

Auch im Fall von Clan-Familien wären Dilemmata für die Teilnehmer denkbar - doch das ist kein Thema, sagt Schumann: „Die Eltern, die mit uns zusammenarbeiten, gehören in der Regel nicht zu kriminellen Zweigen der Clans, beziehungsweise nicht zum inneren Kern und wünschen sich deswegen auch für ihre Kinder etwas anderes.“ Er hat jedoch auch schon Fälle erlebt, in denen Eltern aus polizeibekannten Familien sich das Angebot zwar angehört hätten, „sehr höflich“, betont er, die Polizisten dann aber hinauskomplimentiert hätten mit dem Hinweis, man regele die Probleme selbst. „In Familien, wo kriminelle Clanstrukturen sich manifestiert haben, kommen wir kaum rein“, ist seine Erfahrung.

Stattdessen konzentriert sich das Team auf diejenigen, die sich unterstützen lassen: „Es motiviert zu sehen, dass es funktioniert“, so Schumann. Als Absolvent gilt, wer die Beratung durch die Initiative nicht einfach abbricht, sondern mitmacht, bis er oder sie entlassen wird, weil das Team eine ausreichend gute Sozialprognose sieht. Im Schnitt ist bis dahin eine etwa zweijährige Begleitung nötig. Es werden nur noch zwei Prozent der Absolventinnen und Absolventen so rückfällig, dass sie Intensivtäter werden.

Witalinski und seine Kollegen, darunter Sozialpädagogen, Sozialarbeiter, Pädagogen und Sozialwissenschaftler, halten den Kontakt während der Zusammenarbeit mindestens monatlich, teils aber auch mehrmals wöchentlich. Vereinzelt melden sich Jugendliche auch Monate später noch einmal mit einem Problem. Und nicht nur das: „Einer sagte: ‚Danke, dass du bis zum Schluss an mich geglaubt hast.‘ Solche Wertschätzung ist toll.“


Ein Vorbild für Europa?

Die Initiative „Kurve kriegen“ zur Prävention jugendlicher Intensivtäter startete 2011. Seither gibt es 1200 erfolgreiche Absolventen, einige von ihnen wollen als Sozialarbeiter „Kurve kriegen“ unterstützen.

42 Polizeibehörden in NRW nehmen an der Initiative teil, sieben von ihnen widmen sich ausdrücklich auch Kindern und Jugendlichen aus dem Clan-Milieu. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bewertete „Kurve kriegen“ als Best-Practice-Ansatz.

Mehrere Länder haben den Ansatz für sich übernommen oder angepasst. (jot)