Der aus russischer Sicht schlecht verlaufende Krieg setzt den Kremlchef unter Druck. Erreicht der Unmut im Land eine kritische Marke, ist ein Führungswechsel in Moskau denkbar.
Krieg in der UkraineWie fest sitzt Wladimir Putin noch im Sattel?
Ob Wladimir Putin Albträume hat, ist nicht bekannt. Doch wenn er sie hat, dann dürfte Igor Girkin darin eine Hauptrolle spielen. Vielleicht käme auch ein verfaulter Fisch vor. Denn das ist das Bild, mit dem der populäre Militärblogger seine Frontalkritik am Präsidenten eröffnete. Ein Fisch stinke bekanntlich vom Kopf, erklärte Girkin vor Kurzem, und der Kopf sei in Russland „völlig verrottet“.
Der ehemalige Geheimdienstmann bezog das auf die „katastrophale“ Kriegsführung in der Ukraine. Wenig später stellte Girkin klar, dass er nicht allein Verteidigungsminister Sergei Schoigu gemeint habe: „Unser Präsident schiebt alles Verteidigungsminister Schoigu zu. Das ist Blödsinn.“ Selbst eine Amtsenthebung Putins hält der 52-Jährige nicht für die schlechteste Idee.
Westliche Fachleute: Putin hat ein diktatorisches System errichtet
Was Girkins Attacken für den Kremlchef so gefährlich macht: Der ultranationalistische Blogger ist in der Armee und den Diensten bestens vernetzt. Vor allem in der zweiten und dritten Reihe. Dort, wo die Empörung am größten ist, weil das massenhafte Sterben in der Ukraine nah ist. Girkin droht: „Wenn die Regierung so weitermacht, gibt es Revolten.“
Was es bräuchte, um Unruhe im Militär in einen Umsturz zu verwandeln, sind geeignete Anführer. Girkin kommt dafür eher nicht infrage. Obwohl er 2014 den russischen Umsturz auf der Krim mit organisierte und so die Annexion vorbereitete. Später operierte er unter dem Tarnnamen Igor Strelkow im Donbass. In Moskau hat Girkin aber wenig Einfluss. Westliche Fachleute sind ohnehin überzeugt, dass Putin ein diktatorisches System errichtet hat, in dem keine Herausforderer in Sicht sind. „Der Kreis um den Führer“, erklärt etwa der Osteuropa-Historiker Benno Ennker, sei „auf ein paar wenige zusammengeschmolzen“.
Sie alle stammten aus dem Militär und den Geheimdiensten. Gemeint sind die „Silowiki“, zu Deutsch: die Starken. Doch selbst diese Männer hat Putin mittlerweile zu handzahmen Helfern degradiert. Zu beobachten war das kurz vor dem Überfall auf die Ukraine, als Putin den Sicherheitsrat bei sich antreten ließ. Zwischen den Marmorsäulen des Kremls hockten die Mächtigsten der Mächtigen aufgereiht wie Schuljungen. Premier, Außen- und Verteidigungsminister, die Chefs des Generalstabs und der Geheimdienste: Putin ließ einen nach dem anderen ans Pult treten, damit sie ihr Ja zu Protokoll gaben. Zur Anerkennung der „Volksrepubliken“ im Donbass und damit zum Krieg.
Putin demonstrierte nicht nur seine Stärke. Zugleich wälzte er die Verantwortung für den Krieg auf den Sicherheitsrat ab und holte die Silowiki zu sich ins Boot. Womit der Kremlchef nicht rechnete, war das, was folgte: ein langer Krieg voller Niederlagen, in dem das „System Putin“ auf dem Prüfstand steht. Nicht nur Ennker glaubt, dass ein Scheitern in der Ukraine für das Regime „existenzgefährdend“ wäre. Ähnlich äußert sich der langjährige außenpolitische Putin-Berater Sergei Karaganow: „Es ist für ihn ein überlebenswichtiger Krieg.“
Das ist der Punkt, an dem wieder Igor Girkin ins Spiel kommt. Denn Fachleute wie der Bremer Protestforscher und Russlandkenner Jan Matti Dollbaum sind überzeugt, dass nur eine „schlagkräftige und disruptive“ Revolte das Regime ins Wanken bringen könnte. Besonders im Fokus stehen dabei die Sonderpolizei Omon und die Armee. Nur wenn sich „signifikante Teile“ des Machtapparats weigerten, Befehle auszuführen, könne ein autoritäres Regime stürzen, erläutert Dollbaum.
Klar dürfte sein: Je mehr Soldaten die Militärführung an der Front „verheizt“, um Putins Vorgaben zu erfüllten, desto schneller wachsen Verbitterung und Empörung in der Armee. Und je mehr „frische“ Soldaten das Regime mobilisieren muss, desto tiefer dringt der Unmut in die Gesellschaft vor. Girkin und andere Blogger sind in diesem Sinne Schallverstärker einer vorhandenen Wut.
Mögliche Nachfolger Putins
Eine ganz andere Frage ist, wer im Falle einer Revolte die nötigen Fähigkeiten hätte, um Putin die Macht zu entreißen. Die Silowiki kommen dafür so wenig infrage wie Hasardeure vom Typ eines Jewgeni Prigoschin. Zumal der Chef der Söldnergruppe Wagner seine Kämpfer in der Ukraine noch gnadenloser in den Tod schickt als die reguläre Militärführung. Als Nachfolger kämen daher eher jene langjährigen Putin-Getreuen infrage, die nicht direkt mit dem Krieg zu tun haben.
Vor allem gilt das für die Mächtigen in der Staatswirtschaft, deren Geschäfte unter den westlichen Sanktionen leiden. Ein Mann wie Igor Setschin etwa, der Chef des Ölriesen Rosneft, gehörte einst selbst den Silowiki an. Der 62-Jährige gilt als Strippenzieher ohne Skrupel. Seit Kriegsbeginn ist Setschin weitgehend abgetaucht. Dass er in der Lage wäre, Putin den Weg in ein Exil zu ebnen und die Machteliten zusammenzuhalten, daran zweifelt in Moskau niemand.