Die Streikkultur in Deutschland scheint sich zu wandeln. Der Streik ist wichtig für Beschäftigte, doch auch die Gewerkschaften haben etwas davon, auf sich aufmerksam zu machen.
Die Macht der GewerkschaftenWeniger Getöse und mehr Kompromissbereitschaft – auf beiden Seiten
Fast könnte man meinen, die Deutschen haben sich in puncto Streikkultur etwas von den deutlich konfrontativeren Franzosen abgeschaut. Denn was die Leidenschaft für Streiks betrifft, waren die Bundesbürger bisher ziemlich zahm. Das scheint sich zu ändern: Ob Züge, Busse, Schiffe, Flugzeuge, selbst den Autobahnverkehr in Form von Tunnelsperrungen wollen die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und Verdi am Montag bundesweit stilllegen. Eine beispiellose Aktion, die Millionen Betroffene zur Weißglut bringen wird.
Es ist klar, dass ein Streik nur wirkt, wenn er auch wehtut. Und ebenso verständlich ist, dass die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, der Bodenverkehrsdienste sowie der Luftsicherheit mehr Geld fordern. Eine Inflation um die neun Prozent ist eine nette Umschreibung für einen ganz realen Kaufkraftverlust. Pflegekräfte oder die Beschäftigten der Entsorgungsbetriebe kommen immer weniger über die Runden. Auch im ÖPNV ist die Lage prekär. Schon jetzt gibt es viel zu wenige Bus-, Tram- oder U-Bahnfahrer. Wie soll das weitergehen, wenn die Löhne nicht steigen? Doch ist es angemessen, aufgrund von Einzelinteressen die halbe Republik in Geiselhaft zu nehmen, wo doch alle anderen auch unter der Teuerung leiden?
Der wahre Grund ist offensichtlich: Es geht den Gewerkschaften darum, auf sich aufmerksam zu machen. Sie nutzen die Tarifauseinandersetzung als Kampagne zur Mitgliederwerbung, um den unaufhaltsam scheinenden Schrumpfkurs zu stoppen. Sie lassen ihre Muskeln spielen, damit alle um die Macht der Gewerkschaft wissen. Jetzt ist es allerdings wichtig, dass verhandelt wird. Konstruktiv. Heißt: Es braucht weniger Getöse und mehr Kompromissbereitschaft – auf beiden Seiten.