Am Samstag geht der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine in seinen 500. Tag. Wird die Unterstützung des Westens für das angegriffene Land halten? Fragen an den Kölner Politikwissenschaftler Prof. Thomas Jäger.
Kölner Politikexperte Jäger„Es kann nicht im Interesse des Westens sein, dass die Ukraine auf Gebiete verzichtet“
Dieser Samstag ist der 500. Tag des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Eine lange Zeit, und man merkt bei westlichen Beobachtern die Ungeduld. Warum dauert es so lange, warum kommt die ukrainische Gegenoffensive zu zäh voran? Sind wir zu ungeduldig?
Jeder Tag, den dieser Krieg dauert, ist zu lang. Das empfinden auch die Ukrainer so. Aber wenn wir über die Offensive der Ukraine sprechen, dann muss man sagen: Die Erwartungen waren weit größer als die militärische Unterstützung, die die Ukraine bekommen hat. Sie konnte damit nicht die Überlegenheit herstellen, die sie gebraucht hätte, um eine schnelle Offensive durchzuführen.
Heißt das im Klartext: Die Ukraine wird große Teile ihres Territoriums nicht befreien können?
Das bedeutet das keineswegs. Wir müssen mehrere Faktoren beachten. Erstens: Die Ukraine hat ihre Taktik geändert, sie geht noch langsamer voran und vermeidet so größere Verluste. Zweitens: Es ist die Frage, was auf russischer Seite passiert. Derzeit hält die Verteidigung der okkupierten Gebiete, aber wie lange? Drittens: Die Frage ist, wer wann eine Überlegenheit an militärischem Material herstellen kann. Damit ließe sich dann auch operativ Überlegenheit herstellen.
Lange hat der russische Präsident Wladimir Putin geglaubt, die Zeit spiele für ihn, er habe mehr Leute, mehr Waffen und die Möglichkeiten eines Diktators …
Die erste, ursprüngliche Erwartung in Moskau war: Alles geht ganz schnell. Möglicherweise hat man deshalb gar nicht nachgerechnet, wie viel Material man für einen längeren Krieg eigentlich hätte. Wenn nun die zweite Erwartung entstanden ist, die Zeit spiele für die russische Führung, dann setzt dies voraus, dass westliche Hilfen wegbrechen, ohne dass Russland nachlegen müsste. Denn aktuell hört man ja auf beiden Seiten, dass es an Munition fehlt, an gepanzerten Fahrzeugen, an Luftunterstützung. Umgekehrt gibt es im Westen derzeit die Erwartung, dass in Moskau etwas kippt und Putin zunächst an die Sicherung seiner Herrschaft denken muss. Also: Für wen die Zeit wirklich spielt, ist im Augenblick nicht absehbar. Das hängt von Wahlen in westlichen Staaten ab, aber auch davon, ob Putin seine Herrschaft stabilisieren kann.
Aber wie lange halten die westlichen Staaten durch? In Deutschland legt die AfD zu. Ungarn fordert EU und Nato heraus, und Sie haben ja Wahlen erwähnt. Man denke an die USA.
Meine Einschätzung ist: Sie halten lange durch. Ja, die Parteipräferenzen in Deutschland lassen darauf schließen, dass 25 Prozent der Wahlberechtigten für russische Propaganda anfällig sind. Ungarn ist ein Sonderfall, abhängig von russischen Energielieferungen und mit einer gewissen Neigung zur, sagen wir, „gelenkten Demokratie“. Entscheidend sind aber die USA und die großen europäischen Staaten wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen. In den USA gibt es in der Republikanischen Partei zwar einige, die das Geld lieber zu Hause ausgeben möchten als zugunsten der Ukraine. Aber das kommt bei der Wahlbevölkerung nicht an. 56 Prozent der republikanischen Wähler sagen, die Ukraine müsse weiter unterstützt werden. Donald Trump wird überlegen müssen, seine Position zu ändern, um die Wähler nicht zu vergraulen. Bei den Demokraten ist die Unterstützung ganz stark, und sie ist auch bei den unabhängigen Wählern stabil – und auch im Kongress über die Parteigrenzen hinweg. Auch ein Präsident Trump müsste Kongressbeschlüssen nachkommen.
Was können wir aus dem Aufstand der Wagner-Söldner lernen?
Putins zentrale Machtressource ist, dass er nach außen das Bild des autoritären Herrschers zeigt, der alles kontrolliert. Nur dann bekommt er die Zustimmung der Eliten – sie glauben, er könne ihre Konflikte lösen – und der breiten Bevölkerung, die auf seinen Schutz vertraut. Dieses Bild ist zerbrochen, und wir müssen abwarten, ob er es wiederherstellen kann. Der Aufstand hat gezeigt, dass Putins vermeintliche stabile Herrschaft eben nicht stabil ist. Weder in der Bevölkerung noch bei den Eliten ist sofort jemand aufgestanden und hat sich hinter ihn gestellt. Jetzt müsste er eigentlich im Krieg Erfolge zeigen, die er aber nicht zeigen kann, zumal ihm das Material dafür fehlt.
Wie schätzen Sie die Ressourcen beider Seiten ein?
In Russland wie im Westen kann nicht genug produziert werden, um den Krieg so weiter zu führen, wie es beide eigentlich wollen. Wobei wir für die russische Seite keine verlässlichen Zahlen haben. Wir wissen ja nicht einmal, wie viele der angeblichen Tausenden Panzer in russischen Depots noch brauchbar sind. Und der Westen hat die Entwicklung lange verschlafen. Man hat nicht gemerkt, dass man die Rüstungsproduktion hochfahren muss, nicht nur im Interesse der Ukraine, sondern auch im eigenen Interesse. Ob das jetzt noch schnell genug gelingt, ist offen.
Im russischen Fernsehen wird über Atomschläge phantasiert. Könnte es sein, dass Putin wirklich eskaliert, weil sich sein Angriffskrieg so festgefressen hat?
Das Risiko einer nuklearen Eskalation halte ich für gering. Sie würde Russland weder militärisch noch politisch etwas bringen. Mit diesen Drohungen will man nur die Bevölkerung in den Unterstützerstaaten verunsichern. Vor allem in Deutschland, wo viele dafür empfänglich sind. Im Übrigen ist das Festgefahren-Sein aus russischer Sicht kein schlechtes Ergebnis. Der Abnützungskrieg verhindert, dass die Westbindung der Ukraine institutionalisiert wird, etwa durch einen Nato-Beitritt. Russland kann erneut auf Zeit spielen. Nicht auf ein Jahr, sondern auf fünf oder sechs. Darauf, dass die westliche Unterstützung abnimmt. Dass die Ukraine dann auch wirtschaftlich immer schwächer wird und Russland sein wirtschaftliches und demographisches Gewicht in die Waagschale werfen kann.
Was würden Sie Politikern da empfehlen? Doch auf einen baldigen Waffenstillstand setzen und eine Rumpf-Ukraine in die Nato holen? Zuletzt knüpfte sich so eine Debatte ja an Überlegungen des SPD-Außenpolitikers Michael Roth.
Wo soll denn die Grenze verlaufen in einem Gebiet, in dem sich der Frontverlauf täglich ändert? Die Grenzen der von Russland beanspruchten Gebiete können ja nicht vereinbart werden, ebensowenig der aktuell besetzte Teil der Ukraine. Und überhaupt: Die Frage, ob man die Ukraine während des Krieges in die Nato aufnimmt, stellt sich nicht – es wird immer Mitglieder geben, die das verhindern. Denn sie fürchten, dass ein russischer Angriff auf Lwiw den Beistand der NATO auslöst. Aber es kann auch nicht im Interesse des Westens sein, dass die Ukraine auf Gebiete verzichtet. Russland hat diesen Krieg ja nicht wegen vier ukrainischen Verwaltungsbezirken begonnen, sondern um die politische Dominanz in Europa zu erringen. Um sein Selbstverständnis als imperialistische Macht durchzusetzen. Umso wichtiger ist es, Russland klar zu machen, dass es sich auf seine völkerrechtlichen Grenzen zurückziehen muss. Deshalb ist es die richtige Strategie des Westens, eine militärische Lage herzustellen, in der Russland erfährt, dass es politisch keine andere Chance hat als darüber zu verhandeln. Das ist noch nicht erreicht.
Ist es denn erreichbar?
Das hängt vom Maß unserer Unterstützung ab. Kampfjets, Raketen längerer Reichweite wie die amerikanische ATACMS, Minenräumer. Einfach, weil derzeit teilweise eine Asymmetrie besteht: Russland hat Raketen langer Reichweite, die Ukraine nicht. Russland kann in der Luft relativ frei operieren, die Ukraine nicht. Russische Minen bremsen ukrainische Truppen, der Ukraine fehlt Räumgerät. Diese Asymmetrie ist jetzt, während der ukrainischen Offensive, stärker zu spüren als früher in der Defensive. Wir müssen sie auflösen.
Wie schätzen Sie die Rolle Chinas ein?
China hat Russland politisch und wirtschaftlich weitreichend unterstützt. Aber die Freundschaft ist nicht so grenzenlos, dass es militärisch Hilfe gäbe. Elektronik wird geliefert, Waffen nicht. Ein Erfolg Putins gegen die Ukraine wäre China sicher sehr recht gewesen. Peking kann mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein, weil es den eigenen Wunsch konterkariert, US-Amerikaner und Europäer auseinanderzutreiben. Aber Chinas zentrales Interesse ist es, dass Putins Herrschaft stabil bleibt, man möchte eine Westorientierung Russlands verhindern.
Könnte Putin also so schwach werden, dass China doch eingreift?
Eine zivilgesellschaftliche Revolution in Russland hat kaum Chancen, da kann China beruhigt sein. Eine Autokratie bleibt das wahrscheinlichste Szenario. Andererseits ist der Handel mit Europäern und Amerikanern für China viel zu wichtig, um ihn aufs Spiel zu setzen. Putin hat wider jede ökonomische Vernunft gehandelt, als er den Krieg begann. Bei aller ideologischen Verhärtung in Peking sehe ich nicht, dass man sich auch dort über jede ökonomische Logik hinwegsetzen würde.
Zur Person: Prof. Dr. Thomas Jäger lehrt Internationale Politik an der Universität zu Köln. Er ist ordentliches Mitglied der NRW-Akademie der Wissenschaften und mit seinen Analysen regelmäßig unter anderem bei n-tv präsent.