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Interview

Kölner Philosoph im Interview
Was ist eigentlich echter Frieden, Herr Wiebicke?

Lesezeit 8 Minuten
Teilnehmer eines ökumenischen Gottesdienstes halten Kerzen, die das Friedenslicht aus Betlehem symbolisieren. (Archivbild)

Teilnehmer eines ökumenischen Gottesdienstes halten Kerzen, die das Friedenslicht aus Betlehem symbolisieren. (Archivbild)

Warum wird unsere Gesellschaft immer unfriedlicher, und kann es echten Frieden nur in Demokratien geben? Darüber sprach Carolin Raab mit dem Philosophen und Autor Jürgen Wiebicke.

Herr Wiebicke, wie definieren Sie Frieden?

Frieden ist ganz sicher mehr als die Abwesenheit von Krieg und Gewalt. Frieden ist für mich geknüpft an eine bestimmte innere Einstellung, wie ich anderen Menschen begegne, die vielleicht ganz anders auf die gemeinsame Welt blicken als ich. Und dass ich über Meinungsgegensätze hinweg versuche, ihnen möglichst wohlwollend und vertrauensvoll zu begegnen. Das wäre für mich eine friedliche Grundhaltung.

Wird unsere Gesellschaft tendenziell immer unfriedlicher?

Ich glaube, das spürt inzwischen jeder, dass wir da in eine Gereiztheit und eine Unerbittlichkeit hineingeraten sind, die zerstörerisch wirkt. Man merkt im eigenen Umfeld, dass vertraute Menschen berichten, mit wem sie nicht mehr reden können. Man hört aus Familien, dass bestimmte Themen vermieden werden.

Und wenn Menschen sich sehr stark mit der Frage beschäftigen „Was kann ich denn jetzt eigentlich noch sagen, ohne Stress zu kriegen?“, dann ist das ein latent unfriedlicher Grundzustand.

Worin liegen Ihrer Meinung nach die Ursachen für diese Entwicklung?

Die Wurzel dieser Grundnervosität ist für mich eigentlich Angst. Ich habe das Gefühl, die Angst tropft in unserer Gesellschaft geradezu von den Wänden. Menschen fürchten, dass sich für sie in ihrem Leben etwas ändert. Sie hängen an dem, was sie haben. Was ja auch eine Menge ist, denn wir hatten nie zuvor so viele Freiheitsrechte, so viel äußeren Frieden, so viel Wohlstand im Vergleich mit früheren Generationen.

Und es hat ein Grundgefühl Einzug gehalten, dass das alles nicht mehr sicher ist. Und das macht Menschen Angst. Und aus der Angst heraus wächst dann auch diese Unerbittlichkeit. Dass man sich am liebsten gar nicht mehr auseinandersetzen möchte mit Mitmenschen, die anders ticken als man selbst.

Also fällt es Menschen schwerer, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen und es auch mal auszuhalten, dass jemand anderer Meinung ist als sie selbst?

Ich bin da ganz sicher. Aber ich glaube andersherum auch, dass wir gerade eine Chance haben, uns nochmal neu darüber zu verständigen, was es eigentlich heißt, in einer Demokratie zu leben. Das verlangt nämlich von mir, dass ich innere Friedfertigkeit aufbringe, dass ich bereit bin, es auch mit Menschen auszuhalten und mich mit deren Meinungen geradezu zu quälen, weil wir nie alle gleich ticken werden. Und das soll auch so bleiben. Wir sollen verschieden bleiben dürfen.

Aber momentan, weil das die bequemere Haltung ist, ziehen es viele vor, sich in sogenannten Blasen einzurichten. Und dann führt das dazu, dass um einen herum nur noch Menschen sind, die ähnlich auf die Welt blicken wie man selbst.

Sie haben am Anfang gesagt, Frieden sei mehr als die Abwesenheit von Krieg und Gewalt. Ist Frieden dann vielleicht auch eine Abwesenheit von Angst?

Menschen können niemals angstfrei sein. Denn zur menschlichen Existenz gehört, sich klarzumachen, dass wir eigentlich nie in Sicherheit sind, weil wir verletzliche und sterbliche Wesen sind. Es wäre dumm, das Ziel zu verfolgen, völlig angstfrei zu sein. Aber genauso dumm wäre es, von Angst zerfressen zu werden. Sich von der Angst zu Entscheidungen treiben zu lassen, die eben nur emotional und nicht vernünftig sind.

Man konnte das sehr gut in der Zeit der Corona-Pandemie sehen, wo die Angst so dominant war, dass unvernünftige Entscheidungen getroffen wurden. Was mich in dieser Zeit besonders erschrocken hat, war die Tatsache, wie schnell manche sich innerlich von der Demokratie verabschiedet und gesagt haben: Ja, wenn wir jetzt in China wären, unter diktatorischen Verhältnissen, dann ginge das alles viel einfacher. Aber bei uns dauert alles zu lang. Das ist ein kleines Beispiel dafür, was passiert, wenn die Angst dominiert.

Menschen richten sich ein in ihren digitalen Welten und schießen gegen andere, als ob sie sich so sicher sein könnten, dass das, was sie denken, das Richtige und die Wahrheit ist.
Jürgen Wiebicke

Kann es echten Frieden denn nur in oder zwischen demokratischen Ländern geben?

Wenn man sich die Geschichte anschaut, wird man merken, dass Demokratien in Kriege hineingezogen werden, aber Kriege nicht beginnen. Und in Demokratien haben Menschen eben auch das Freiheitsrecht zu sagen, „Ich möchte gar keinen Krieg. Ich bin dagegen, dass ihr auf die Karte Gewalt setzt“. Und das ist eigentlich der, wie ich finde, sehr ermutigende Zusammenhang zwischen Frieden und Demokratie. Das kann uns helfen, beides wertzuschätzen und nicht das eine ohne das andere zu wollen.

Als Konsequenz daraus: Was macht die zunehmende Demokratieskepsis, das Infragestellen von Demokratie und Rechtsstaat, mit den Aussichten auf zumindest begrenzte Friedensräume?

Im Moment merken wir ja schon, wie schwierig die Kommunikation über Kriegsherde anderswo ist - also wenn es beispielsweise um die Ukraine oder den Nahen Osten geht. Dann denkt man ganz schnell, man kann eigentlich gar nicht mehr miteinander reden. Deswegen würde ich sagen, wir sollten uns mal klar machen, wie viel Friedfertigkeit wir alleine in unserer Gesellschaft schon benötigen, um das Miteinander aushalten zu können.

Mir fällt gerade das Sprichwort ein „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ Würden Sie dem zustimmen?

Nicht vorbehaltlos. Es geht ganz schnell, dass man den Nachbarn, den Anderen, für böse hält. Die Frage ist aber: Was ist mit mir selber? Ich würde sagen, heute geht es darum, viel stärker als bislang zu prüfen: Was geht eigentlich zwischen Menschen, die sich wechselseitig nicht ausstehen können? Wann sind sie bereit, miteinander zu streiten? Wenn ich jemanden endgültig als böse betrachte, dann ist ja jeder Dialog zwecklos.

Aber ich habe das Gefühl, heute geht es darum, erstmal auszutesten: Was ist denn eigentlich möglich? Wo können wir Brücken der Verständigung suchen? Und das wäre dann eine Anforderung an mich selber. Aber das ist natürlich anstrengend.

Und viele Menschen wollen diese Anstrengung nicht aufbringen?

Wenn man heute Menschen fragt: Blickst du eigentlich gut durch, was in der Welt passiert, bist du gut orientiert? Dann werden die meisten Menschen sagen: „Nein, wir haben gerade Krisenzeiten. Die Welt ist irgendwie aus den Fugen geraten. Ich komme gar nicht mehr richtig klar.“ Und ausgerechnet in einer solchen Situation, wo wenig Orientierung da ist, schießen plötzlich die steilen Meinungen hoch.

Und Menschen richten sich ein in ihren digitalen Welten und schießen gegen andere, als ob sie sich so sicher sein könnten, dass das, was sie denken, das Richtige und die Wahrheit ist. Eigentlich müsste es doch so sein, dass man dann immerzu Gelegenheiten findet, um zu sagen: Ja, ich weiß es jetzt gerade eigentlich auch nicht so genau.

Wenn wir es schaffen könnten, dass Menschen ein besseres Verhältnis zu ihrem Nichtwissen haben, dass sie Nichtwissen nicht als etwas Unangenehmes betrachten, könnten wir uns viel besser verständigen.

So wie der Kölner Dom niemals fertig sein wird, ist auch die Demokratie niemals fertig. Und ich finde, dass es gut ist, sich klarzumachen, dass wir immer improvisieren. Aber wir machen halt weiter.
Jürgen Wiebicke

Sie beschäftigen sich auch mit der Philosophie Immanuel Kants. In seiner grundlegenden Schrift „Zum ewigen Frieden“ hat er einige Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für einen echten, dauerhaften Frieden beschrieben. Ist das, was er da vorschlägt, überhaupt erreichbar oder wird es eine Utopie bleiben?

Ich glaube, dass das eine tolle Utopie ist. Zu den traurigen Tatsachen von heute gehört, dass wir schon mal weiter damit waren, diese Grundidee von Kant zu verwirklichen. Denn diese Idee besteht darin, zu sagen: Wenn immer mehr Länder auf der Welt demokratisch werden und rechtsstaatliche Verfassungen haben, dann werden auch immer mehr Länder auf der Welt miteinander gute Verträge schließen, die den Frieden bewahren und den Krieg verhindern.

Im Grunde hat Kant mit dem Text die Vorlage für die Charta der Vereinten Nationen geliefert. Nur leider erleben wir da gerade schlimme Rückfälle. Deswegen würde ich sagen, wir waren schon mal näher dran an seiner Vision.

Der Philosoph, Journalist und Autor Jürgen Wiebicke

Der Philosoph, Journalist und Autor Jürgen Wiebicke

Sie haben gesagt, je mehr Länder demokratische Strukturen und Verfassungen haben, desto leichter wird es mit dem Frieden untereinander. Kann es je gelingen, dass man von außen Demokratie und Frieden in ein anderes Land bringt, wie die USA es in der Geschichte schon oft versucht haben?

Wir sind ja klug aus der Vergangenheit geworden und können darauf schauen, wo das überall nicht funktioniert hat. Wenn gesagt wurde, wir exportieren Demokratie nach Afghanistan oder wir zetteln einen Krieg mit Saddam Hussein im Irak an, also all das, was die Amerikaner sehr offensiv vorangetrieben haben, dann wird man heute sehen, dass das alles in Scherben gefallen ist. Und heute müssen wir daraus klüger werden.

Demokratien entstehen, weil Menschen in einer Gesellschaft die Demokratie wollen und das funktioniert wahrscheinlich nicht so gut, wenn sie von außen gebracht wird. Wobei man gleich hinzufügen muss: Auch das stimmt nicht hundertprozentig. Denn wir verdanken ja unsere Demokratie hier der Tatsache, dass die Alliierten uns auf diesen Weg gebracht haben nach 1945.

Wenn wir es schaffen könnten, dass Menschen Nichtwissen nicht als etwas Unangenehmes betrachten, könnten wir uns viel besser verständigen.
Jürgen Wiebicke

Kann man erst einmal nur mit Unvollkommenheit arbeiten, also akzeptieren, dass wahrscheinlich nie auf der ganzen Welt Frieden herrscht – und gleichzeitig immer einen Schritt weiter in die richtige Richtung gehen und die Unvollkommenheit aushalten?

Auf jeden Fall. Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, sich heute klar zu machen, dass Demokratie immer unvollkommen ist. Es wird nie den Tag geben, wo alle sagen: Jetzt haben wir die Gesellschaft, die perfekt ist für alle Zeiten. Sondern man wird immer auf Defizite stoßen und wird merken: Ja, dieses Haus der Demokratie, das muss neu tapeziert werden. Da müssen die Möbel neu gerückt werden, das ist nie richtig fertig.

So wie der Kölner Dom niemals fertig sein wird, ist auch die Demokratie niemals fertig. Und ich finde, dass es gut ist, sich klarzumachen, dass wir immer improvisieren. Aber wir machen halt weiter. Wir reißen nicht das Haus ab – oder eben die Kathedrale.