Nicht einmal die Hälfte der Einwohner Deutschlands gehört einer der großen Kirchen an. Wie lange wird das christliche Erbe noch nachwirken?
KommentarWas bleibt, wenn die Kirchen auf dem Rückzug sind?
An sein nicht eingelöstes Versprechen einer Zeitenwende ist der Bundeskanzler angesichts des Endes seiner Koalition immer wieder erinnert worden. Vor gut zwei Jahrtausenden hat dagegen wirklich eine Zeitenwende stattgefunden. Das Auftreten des Jesus von Nazareth, die Lehre, die er hinterließ, die Anhänger, die er fand – dies hat der Geschichte einen neuen Lauf gegeben. Einen so neuen Lauf, dass unsere Jahreszählung vom vermeintlichen Termin seiner Geburt ausgeht, die wir an Weihnachten feiern.
Und heute? Das Christentum ist in den meisten westlichen Staaten auf dem Rückzug. Und wer hoffnungsfroh auf Zahlen anderer Weltregionen blickt, sollte auch Unerfreuliches nicht ignorieren. Katholische und anglikanische Bischöfe in Europa haben zum Beispiel ihre liebe Not mit der Haltung afrikanischer Amtsbrüder zur Homosexualität. In westlichen Staaten wirkt das zusätzlich abschreckend, als ob die Lage nicht schon schwierig genug wäre: Weniger als die Hälfte der Einwohner Deutschlands gehört noch einer der großen Kirchen an. Wo und wie immer Menschen den Sinn ihres Lebens suchen, sie tun es zunehmend individuell und in manchen Fällen einsam.
Der Wunsch, wenigstens für kurze Zeit nicht allein zu sein, führt auch manche Kirchenferne in die Weihnachtsgottesdienste. Die Kirchen, das gehört zu ihrem Grundverständnis, lassen niemanden allein. Nicht die Alten und Kranken, die Obdachlosen, die Sterbenden. Und doch wird diese Gemeinschaft immer weniger nachgefragt. Und ja, vor allem beim Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt haben die Kirchen – das gilt für alle Konfessionen – den Gedanken der schützenden, bergenden, helfenden Gemeinschaft aufs Schlimmste verraten.
Dieser Glaubwürdigkeitsverlust erklärt das Schwinden der Kirchen aber wohl nur zum Teil. Paradoxerweise werden sie vielmehr wohl auch deshalb von so vielen Leuten nicht einmal mehr vermisst, weil sich christliche Grundideen in unseren Gesellschaften prägend durchgesetzt haben. Die Gleichwertigkeit aller Menschen – nicht Sklave und Freie, wie Paulus im Galaterbrief schrieb. Die Achtung vor dem Schwachen, vor dem Kranken, vor Kindern. Die Religions- und Gewissensfreiheit: Dem Kaiser steht nicht zu, was Gott gehört. Viele Ideen, die wir der Moderne zuschreiben, sind schon im Neuen Testament angelegt, auch wenn Christen sie oft genug verraten haben.
Die Prägung bleibt ja, auch wenn sich die Kirchen zurückziehen müssen, könnte man nun sagen. Man merkt also gar nicht, dass da etwas fehlt. Aber wie lange wird das christliche Erbe noch nachwirken? Unser freiheitlicher, säkularisierter Staat lebe „von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“, hat der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde bekanntlich geschrieben. Auch unabhängig vom persönlichen Glauben sollten wir an Weihnachten darüber nachdenken.