Wladimir Putin war gewarnt – und hat die US-Warnung vor einem Terroranschlag öffentlich zurückgewiesen. Was der „Crocus“-Terroranschlag über die Sicherheitslage in Russland aussagt. Und was der Zustand des Landes für internationale Sicherheit bedeutet.
IS-Massaker in der „Crocus“-HallePutins zynische Fahrlässigkeit
Welch ein Grauen. Der Massenmord in der Konzerthalle „Crocus“ nahe Moskau gehört zu den schwersten islamistischen Anschlägen in Europa überhaupt, sein Ausmaß ähnelt dem des Massakers von Paris im Jahr 2015. Die Opfer sind Zivilisten, zum Teil Familien mit Kindern, die an einem Freitagabend hier, im Moskauer Vorort Krasnogorsk, Entspannung gesucht haben.
In ihrer Mehrheit mögen die Konzertgäste wie die meisten Russen Anhänger von Staatschef Wladimir Putin gewesen sein. Das mindert die Trauer und das Entsetzen nicht. Es lenkt allerdings den Blick auf die bohrenden Fragen, die eigentlich gestellt werden müssten und in Russland, unter Putin, nicht gestellt werden dürfen. Russland war ja gewarnt. Westliche Geheimdienste hatten schon vor der Präsidentschaftswahl eine Gefahrenlage in Moskau erkannt, ihre eigenen Staatsbürger vor der Teilnahme an Massenansammlungen gewarnt und vorübergehend sogar die Arbeit ihrer diplomatischen Vertretungen eingeschränkt. Auch gegenüber der russischen Regierung sind die USA ihrer selbst auferlegten „duty to warn“, ihrer Pflicht zum Warnen, nachgekommen – so wie gegenüber dem Iran im Vorfeld des Anschlags von Kerman Anfang diesen Jahres. Die Moskauer Führung hat die US-Informationen nicht nur ignoriert – wie offenbar seinerzeit auch die iranische –, sondern Putin hat diese Terrorwarnung sogar öffentlich als Erpressung zurückgewiesen. In einem demokratischen Land wäre das Anlass genug für seinen Rücktritt.
Das bedeutet nicht, dass Russland jeden möglichen Anschlag hätte verhindern können – das können auch westliche Staaten nicht. Aber es fehlte ja offenbar an elementaren Sicherheitsmaßnahmen. In Köln und Wien wurde um die Weihnachtszeit der Zugang zu den Kathedralen streng reglementiert, weil Hinweise auf Anschlagspläne des zentralasiatischen Zweiges des „Islamischen Staates“ vorlagen – der Gruppe, die jetzt bei Moskau zugeschlagen hat. In und um Moskau ging der Unterhaltungsbetrieb dagegen trotz aller Warnungen einfach weiter. Die Terroristen konnten ungehindert Waffen in die Konzerthalle bringen und eine Stunde lang morden, ohne dass Sicherheitskräfte eingriffen. Und das keine zehn Minuten von einer Kaserne der paramilitärischen Rosguardia entfernt. In der mit Überwachungskameras gespickten Hauptstadtregion, in der Teilnehmer der Beerdigung von Alexej Nawalny anhand ihrer Gesichter identifiziert und festgenommen worden waren. In einem von Geheimdiensten durchsetzten Land, das Oppositionelle als Terroristen verfolgt.
Putins Überwachungsapparat wurde vom Massaker der Islamisten ebenso überrascht wie im Sommer letzten Jahres vom Aufstand der Wagner-Söldner. Und die Versuche, das IS-Massaker der Ukraine in die Schuhe zu schieben, belegen nur die Hilflosigkeit des Regimes. Anstatt ihre Aufgaben im Inneren wahrzunehmen, marodiert die Rosguardia an der Seite der Armee in der Ukraine. Anstatt Russland zu neuer Größe zu führen, setzt Putin die Sicherheit seines Landes aufs Spiel. Die Lage in Zentralasien, der Herkunftsregion der Terroristen, ist Putin ebenso entglitten wie die im Kaukasus. Sein Militär hat anderes zu tun.
Putins zynische Fahrlässigkeit im Vorfeld des „Crocus“-Anschlags steht symptomatisch für den Zustand eines Landes, das viele wohlmeinende Politiker im Westen jahrzehntelang als Sicherheitspartner gesehen haben und mit dem sie nach einem „Einfrieren“ des verbrecherischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gern wieder ins Geschäft kämen. Auch Leute wie Joe Biden und Olaf Scholz passen auf, dass die den Angreifern bei ihrer Gegenwehr keine zu großen Schäden zufügt. Aber welchen Beitrag zur internationalen Sicherheit könnte ein mafiöses System mit einem rechtextremistischen Gewaltverbrecher an der Spitze leisten?
Der Überfall auf die Ukraine selbst ist ja ein Beleg für den Verfall von Putins Reich. Wäre es anders, dann hätte er den Versuch nicht nötig gehabt, durch die Okkupation des wirtschaftlich und kulturell viel höher entwickelten Nachbarlandes den russischen Großmachtstatus zu retten. Sicherheit mit einem solchen Diktator kann es nicht geben – nur Sicherheit vor ihm. Wir in den westlichen Demokratien können uns diese Sicherheit verschaffen, wenn wir es nur wollen. Leider gibt es aber niemanden, der die Bürger Russlands vor Putin in Sicherheit bringen könnte.