Der SPD-Fraktionschef und Kölner Abgeordnete Rolf Mützenich über Fehler der Ampel-Koalition, über Haushaltsnöte, Schuldenbremse und das Zwei-Prozent-Ziel der Nato – und die Gefahr einer möglichen Eskalation des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine.
SPD-Fraktionschef im Rundschau-GesprächWie wollen Sie das alles bezahlen, Herr Mützenich?
Es gibt große Kundgebungen gegen Rechtsextremismus, aber immer noch würde sich laut Umfragen ein Fünftel der Befragten für die AfD entscheiden. Forsa-Chef Manfred Güllner hat Ende 2023 darauf hingewiesen, dass die AfD einen höheren Anteil der Wahlberechtigten auf sich vereint als die NSDAP am Ende der Weimarer Republik. Müssen wir davon ausgehen, dass das so bleibt?
Ich scheue historische Vergleiche, weil die Situation einfach anders ist als damals. Auch in anderen europäischen Ländern wächst der Anteil derjenigen, die bereit sind, rechtsextremistische Parteien zu wählen. Vor dem Hintergrund unserer deutschen Geschichte ist das bei uns jedoch besonders bedenklich. Umso wichtiger und ermutigender sind die jetzt stattfindenden Demonstrationen für Demokratie und eine offene Gesellschaft. Dabei ist mir klar, dass nicht alle, die für die AfD stimmen, selbst rechtsradikal sind. Sie wollen vielleicht Ärger ausdrücken und auf Versäumnisse hinweisen. Auch auf solche, die in unserer Verantwortung liegen und die damit zu tun haben, wie regiert wird. Aber jeder sollte sich im Klaren darüber sein, was es heißt, AfD zu wählen.
Aber leitet nicht gerade die Breite dieser Demonstrationen neues Wasser auf die Mühlen der AfD? Wenn da zum Beispiel Regierungsvertreter mitgehen, dann sagt die AfD: Seht, die halten alle zusammen, wir sind die einzige Opposition.
Was natürlich Unsinn ist. Demokratinnen und Demokraten treten bei allen Unterschieden hier gemeinsam auf, weil wir uns zu Recht Sorgen um unsere demokratischen Institutionen, Regeln und Werte machen. Wenn Sie noch mal auf die Weimarer Republik schauen, dann war so ein Zusammenstehen aller demokratischen Kräfte damals leider nicht selbstverständlich.
Sie sagten eben, Sie haben Dinge falsch gemacht. Was konkret?
Ich denke an die Abläufe beim Heizungsgesetz. Diesen sehr schmerzhaften Prozess, Klimaschutz und sozialen Ausgleich zusammenzubringen. Den regierungsinternen Streit, der öffentlich ausgetragen wurde. Und das in einer ohnehin verunsichernden Zeit: Wir haben die Corona-Pandemie gerade hinter uns und erleben jetzt die Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine.
Wie konnte das passieren?
Ich hatte oft den Eindruck, dass aus dem Wirtschaftsministerium Entwürfe kamen, die zwar theoretisch einen richtigen Weg beschrieben, aber nicht zu Ende gedacht waren. Dass die betroffenen Menschen Förderung erhalten und auch wissen, welche Alternativen es gibt – Stichwort kommunale Wärmeplanung –, das haben wir erst im Parlament so auf den Weg gebracht. Das war am Anfang schlechtes Regierungshandwerk, das zur Verunsicherung beigetragen hat. Dazu kam eine aufgeheizte innerkoalitionäre Diskussion, besonders zwischen unseren beiden Koalitionspartnern.
Was können Sie als Fraktionschef tun, damit sich das nicht wiederholt?
Auf der einen Seite muss ich eine junge und auch teilweise neue Truppe von 207 Abgeordneten zusammenhalten, um dem Kanzler den Rücken zu stärken. Auf der anderen Seite werbe ich sehr stark um Kompromisse. Beim Heizungsgesetz bin ich da bis zur Selbstverleugnung gegangen. Wir wollten eine Grenze bei der Förderung einziehen, so dass Leute mit sehr hohen Einkommen und Vermögen nicht profitiert hätten. FDP und leider auch Grüne waren dazu nicht bereit.
Wenn die Leute aus Protest AfD wählen, müssten Sie sich inhaltlich stärker mit ihr auseinandersetzen? Laut Umfragen wünscht sich das ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger.
Ich führe diese Auseinandersetzung seit Jahren intensiv. Die Morde von Halle, der Mord an Walter Lübcke: Ich habe darauf hingewiesen, welche Rolle bei den Tätern ein Vokabular spielte, wie es die AfD verwendet. Ich spreche darüber, wie katastrophal der von der AfD angepeilte EU-Austritt für unsere Wirtschaft wäre. Was es heißt, wenn Björn Höcke Kinder und Jugendliche mit Handicap als Belastung der Gesellschaft bezeichnet. Das ist inhaltliche Auseinandersetzung.
Aber zum Beispiel im Kölner Stadtrat ist es so, dass ein AfD-Antrag grundsätzlich nicht durchgeht. Lieber stellen andere dann später einen inhaltlich gleichen Antrag.
Ich möchte mich nicht zur Kommunalpolitik äußern, aber im Bundestag würden Sozialdemokraten nie eine Mehrheit mit der AfD suchen. Wir können nicht ändern, dass Antidemokraten demokratisch gewählt werden. Aber wir können verhindern, dass sie durch Zusammenarbeit normalisiert und demokratisch legitimiert werden. Die Europawahl wird ein Test sein, ob die Brandmauer hält. Im europäischen Parlament wird es möglicherweise zu einer stärkeren Rechtsorientierung kommen. Und da muss Manfred Weber als Fraktionschef der christlich-demokratischen EVP entscheiden, ob er Kooperationen ausschließt.
Sie nennen jetzt die Christdemokraten, aber es ist doch auch ein Problem der SPD. Viele Arbeiter wählen AfD.
In der Tat tun sie es, obwohl die AfD nicht die Interessen der Arbeiter vertritt – ganz im Gegenteil: Sie ist gegen den Mindestlohn und will die Steuern für Spitzenverdiener senken. Diese klaren Widersprüche müssen wir deutlich machen. Das gehört auch zur inhaltlichen Auseinandersetzung. Natürlich müssen wir auch darauf eingehen, dass sich Menschen mit ihren Sorgen im Strukturwandel von der Regierung allein gelassen fühlen. Aber die AfD wird ihnen dabei ganz sicher nicht weiterhelfen – im Gegenteil!
Auch im traditionellen SPD-Milieu haben Leute ihre Probleme mit einer Migrationspolitik, die zum Beispiel die doppelte Staatsangehörigkeit zum Regelfall bei Einbürgerungen macht. Und das, während Herr Erdogan deutsche Innenpolitik mit einer Parteigründung beeinflussen will. Müssten Sie solche Sorgen nicht aufgreifen?
Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ist ein längst überfälliger Schritt, für den sich die SPD lange eingesetzt hat. Bei Ihrer Frage lassen Sie zudem andere Elemente unter den Tisch fallen, etwa, dass wir eine ausgewogene Migrationspolitik umsetzen, die eine bessere Rechtsdurchsetzung ermöglicht, wenn Menschen kein Bleiberecht haben, und gleichzeitig Wege der legalen Arbeitsmigration eröffnet. Denn wir brauchen die Zuwanderung von Fachkräften, wollen Geflüchtete – gerade auch aus der Ukraine – besser in den Arbeitsmarkt integrieren; und ja: Einbürgerung für Menschen, die schon lange hier leben und sich nichts vorzuwerfen haben – sie gehören zu unserer Gesellschaft. Viele fühlen sich zugleich auch ihrer zweiten Heimat verbunden, da ist die doppelte Staatsbürgerschaft die richtige Antwort. Und erfolglose Versuche, von außen auf unsere Politik Einfluss zu nehmen, die gab es auch schon vor Herrn Erdogan.
Nach dem Heizungsgesetz der Streit um die Schuldenbremse – hat die Koalition denn jetzt Tritt gefasst?
Mehr als die Hälfte der Vorhaben im Koalitionsvertrag haben wir in den ersten zwei Jahren umgesetzt. Das nennt die Bertelsmann-Stiftung beachtlich. Es betrifft etwa den Mindestlohn oder das Kindergeld, das auf 250 Euro ab dem ersten Kind erhöht wurde. Die Schuldenbremse ist ja nur ein Teil der Diskussion. Gerade reden wir über die Unternehmenssteuern. Ich finde, die unterschiedlichen Vorschläge sollten erst mal innerhalb der Regierung und innerhalb der Koalition besprochen werden..
Aber wie wollen Sie das alles bezahlen, sozialen Ausgleich, öffentliche Investitionen, die Folgekosten des russischen Krieges gegen die Ukraine?
Es muss einen Mix aus Lösungen geben. Kampf gegen Steuerbetrug. Eine weitere Mindestbesteuerung in der EU. Wir müssen von starken Schultern in unserer Gesellschaft mehr Solidarität einfordern. Und in der Tat: Die sehr restriktive 15 Jahre alte Schuldenbremse passt nicht mehr zu den heutigen Herausforderungen – Wirtschaft und Wissenschaft bestätigen uns das. Wenn wir eine Reform der Schuldenbremse mit Zukunftsinvestitionen als Kriterium verknüpfen, können wir Infrastrukturmaßnahmen auf den Weg bringen, die sich auch noch für die nächsten Generationen auszahlen. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Hilfen für die Ukraine gegen Zukunftsinvestitionen, oder die soziale Sicherheit gegen die Unterstützung der Kommunen ausgespielt werden.
Glauben Sie, dass die drei Ampelparteien nach der nächsten Wahl nochmal zusammenkommen?
Das entscheiden die Wählerinnen und Wähler. Dass es keine Liebesheirat ist, war von Anfang an klar. Die Alternative wäre eine große Koalition gewesen, aber damals waren sich doch alle einig: bloß nicht wieder. Und wir haben den Koalitionsvertrag bei einer Wachstumsprognose von vier Prozent geschlossen. Zwei Monate später kam dann der russische Angriff auf die Ukraine. Das hat alles verändert.
Aber schon, als Sie den Vertrag unterschrieben, zog Russland seine Truppen für jeden sichtbar zusammen. Jetzt warnen Militärs und Politiker in anderen europäischen Ländern, dass es in wenigen Jahren zum Konflikt zwischen Russland und der Nato kommen könnte. Der Verteidigungsminister sagt, die Bundeswehr müsse kriegsfähig werden. Wie soll sich unser Land darauf einstellen?
Wir leben in gefährlichen Zeiten. Niemand weiß, ob dieser Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine begrenzt bleibt oder ob sich daraus noch weitere militärische Eskalationen ergeben. Umso wichtiger war es, dass der Bundeskanzler insbesondere mit dem amerikanischen und dem französischen Präsidenten zusammen in den ersten Monaten alles unternommen hat, damit sich aus diesem Überfall nicht noch weitere militärische Risiken ergeben. Nehmen Sie die Reise des Kanzlers nach Peking. Die war ganz entscheidend für die Bestätigung, dass Atomwaffen niemals eingesetzt werden dürfen. Es ist richtig, dass wir mit dem Sondervermögen für die Bundeswehr die Abschreckungsfähigkeit erhöhen. Aber die andere Seite der Medaille ist Diplomatie. Und ich habe mich manchmal gewundert, dass in Deutschland zuweilen mehr darüber diskutiert wurde, wie man einen Krieg führt, als darüber, wie man einen Krieg beendet.
Nun haben Sie gerade selbst Beispiele dafür genannt, dass Gespräche laufen. Etwa mit China.
Aber Sie werden sich vielleicht daran erinnern, dass selbst aus der Bundesregierung heraus dem Bundeskanzler Verhaltensmaßregeln mit auf den Weg gegeben wurden für diese Reise. Und das stört eher Diplomatie, als dass es sie stärkt.
Sehen Sie denn irgendjemanden in Moskau, mit dem man produktiv reden könnte?
Das ist schwierig für Regierungen, die wie unsere eindeutig auf Seiten der Ukraine stehen. Was wir aber machen können, ist, mit anderen Ländern darüber reden, ihre Kontakte nach Moskau zu nutzen. Die Türkei spielte beispielsweise eine entscheidende Rolle bei der Einigung auf das Getreideabkommen und dem Austausch von Gefangenen.
Können Sie uns erklären, warum die Ukraine alle möglichen Waffensysteme von uns erhält, aber nicht den Taurus?
Wissen Sie, was mich stört? Diese Herangehensweise in Deutschland, dass man ein Waffensystem zum Game Changer erklärt. Letztes Jahr hätten Sie wahrscheinlich nach dem Leopard 2 gefragt, der als militärisches Allheilmittel galt. Diese Hoffnung hat sich leider nicht erfüllt. Jetzt passiert dasselbe mit Taurus. Der Bundeskanzler hat von mir alle Unterstützung, wenn er sehr gründlich abwägt, was wir liefern können und was nicht. Das ist ja alles kein Spiel. Übrigens höre ich von ukrainischen Gesprächspartnern immer wieder, dass die Ukraine derzeit vor allem Luftabwehrsysteme, Munition und Hilfe bei der Ausbildung braucht.
Wenn der Kanzler es Ihnen erklärt hat, können Sie es dann auch uns erklären?
Wir brauchen uns nicht zu verstecken. Wir sind das Land, das neben den USA die Ukraine am stärksten unterstützt. Umso mehr wünsche ich mir, dass man dem Bundeskanzler für seine Entscheidungskompetenz den angemessenen Raum gibt. Nicht alle Abwägungen müssen in der Öffentlichkeit ausgebreitet werden. Die Leute, die in den Talkshows sitzen, haben am Ende nicht die Verantwortung.
Denken Sie selbst über eigene frühere Positionen nach? Ihre Bedenken gegen bewaffnete Drohnen. Oder gegen die Orientierung am Zwei-Prozent-Ziel der Nato. Vielleicht stünden wir heute anders da, wenn die große Koalition mehr in die Bundeswehr investiert hätte.
Ja, ich gestehe Sichtweisen ein, die natürlich nach der russischen Aggression in einem anderen Licht erscheinen müssen. Aber die, die heute sagen, sie hätten es schon immer gewusst, wollen sich auch in ein besseres Licht setzen. Beispielsweise hatten wir in der Vergangenheit am Ende eines Haushaltsjahres oft mehrere Milliarden Euro an Mitteln für die Bundeswehr nicht verausgabt. Das zeigt, dass es ja offensichtlich nicht nur ein Finanzierungsproblem, sondern auch ein Beschaffungsproblem gab. Und das Zwei-Prozent-Ziel ist eine willkürliche Größe, ursprünglich erdacht, um potenzielle Nato-Bewerber draußen zu halten. Haben wir damit automatisch mehr Verteidigungsfähigkeit erreicht? Könnten wir das nicht auch, indem wir zum Beispiel in Europa mehr auf gemeinsame und geteilte Ausrüstung setzen?
Aber sollten sich unsere Partner nicht auf Vereinbarungen verlassen können?
Das können sie auch. Zweck dieser Vereinbarung zwischen den NATO-Regierungen ist eine verbesserte Verteidigungsfähigkeit. Dennoch entscheidet der Bundestag über den Haushalt und nicht die Regierung. Wir sind bereit, mehr in unsere Verteidigung zu investieren und haben das mit der Verabschiedung des 100 Milliarden schweren Sondervermögens auch bewiesen. Ich bin aber auch dafür das Geld effizienter als bislang auszugeben, zum Beispiel in dem wir Rüstungsgüter auf dem Markt einkaufen, anstatt alles nach Vorgaben der Bundeswehr selbst zu entwickeln. Da hätte man viel Geld sparen können.
Das heißt, nach einem Regierungswechsel gelten Zusagen nicht mehr?
Der Bundeskanzler hat ja eine klare Zusage gegeben. Aber ich bin dagegen, ständig über willkürliche Zahlen zu reden. Es muss um das Ergebnis gehen.
Wenn wir mal auf die USA blicken, die sich schon unter Joe Biden weniger um Europa kümmern und wo möglicherweise eines Tages ein Präsident Donald Trump erklären wird, dass ihn die Nato-Beistandspflicht nicht interessiert: Wären wir da nicht eines Tages froh, nur über zwei Prozent reden zu müssen?
Ich habe ein anderes Bild von den USA. Sie hat demokratische Institutionen. Sie hat eine unabhängige Justiz. Die werden auch auf einen omnipräsenten Präsidenten Einfluss nehmen. Und die USA sind eine Weltmacht. Eine Weltmacht verzichtet nicht ohne weiteres auf Einfluss, auch nicht in Europa.
Aber Donald Trump hat doch jetzt schon dafür gesorgt, dass der US-Kongress paralysiert wird. Müssen wir seine Ankündigungen nicht sehr ernst nehmen und auf das Risiko, dass er regiert und sie umsetzt, einstellen?
Vor acht Jahren habe ich darauf hingewiesen, dass ich eher Trump als Präsident sehe als Hillary Clinton. Einen Sieg Trumps halte ich jetzt aber noch lange nicht für sicher. Im Gegenteil. Ich glaube, dass das Rennen noch lange nicht entschieden ist – gerade mit Blick auf das Wahlverhalten von Frauen, Schwarzen und der asiatisch-stämmigen Bevölkerung.
Sie sind von Herzen Außenpolitiker. Haben Sie es je bereut, sich als Fraktionschef ins Geschirr nehmen zu lassen und zum Beispiel ums Heizungsgesetz kümmern zu müssen?
Der Fraktionsvorsitz ist für mich die Krönung meiner parlamentarischen Arbeit. Und es ist ein großes Privileg für mich, in einer solchen Rolle meinen Beitrag leisten zu dürfen. Aber ich muss auch gleichzeitig zugeben: Ja, das Amt zerrt an mir und fordert mich heraus.
Möchten Sie trotzdem weitermachen, oder würden Sie jetzt irgendwann sagen wollen: Ist jetzt gut?
Diese Frage stelle ich mir zurzeit nicht. Jetzt geht es darum, der Koalition Stabilität zu verleihen. Dazu leiste ich meinen Beitrag, so lange wie ich es für sinnvoll und leistbar halte.