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Interview mit Sicherheitsexperten„Das war kein Rückzug, sondern eine panische Flucht“

Lesezeit 7 Minuten
Verwundeter Soldat Charkiw

Ein ukrainischer Soldat hilft einem verwundeten Kameraden im befreiten Gebiet in der Region Charkiw.

Welche Folgen haben die russische Niederlage bei Charkiw und ukrainische Offensive bei Cherson?Raimund Neuß sprach mit Prof. Joachim Krause, dem Leiter des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel.

Herr Professor Krause, manche Analysten sehen die ukrainische Offensive bei Charkiw als Gezeitenwechsel oder sogar als Wende im Krieg. Ist sie wirklich ein Wendepunkt?

Der Gezeitenwechsel hat sich seit Wochen abgezeichnet, nachdem erkennbar wurde, dass die russischen Streitkräfte sich verausgabt und überdehnt hatten und nicht mehr zu größeren Offensivoperationen in der Lage waren. Die Ukrainer griffen im Übrigen sehr viel erfolgreicher an, als es die meisten Experten erwartet hatten. Die russischen Streitkräfte erwiesen sich als schlecht organisiert, die Motivation ihrer Soldaten war auf einem niedrigen Stand. Viele ihrer Soldaten haben die Flucht ergriffen, sobald sich ein Durchbruch abzeichnete. Jede Menge an Panzern, Munition und sonstigen Waffen blieb zurück. Das war kein geordneter Rückzug, sondern eine panische Flucht. Die Frage ist nur, wie viel Territorium die Russen noch aufgeben, um sich wieder zu regenerieren. Diese Niederlage könnte sich an anderen Abschnitten wiederholen.

Kann die Ukraine umgekehrt das gleiche Problem der Überdehnung bekommen? Sie hat große Gebiete zurückgewonnen und muss auch eine lange Grenz zu Russland verteidigen…

Die Russen haben nach wie vor das Problem der langen Linie, sie umkreisen von außen her ukrainisches Gebiet und das macht die Versorgungslinien lang und verwundbar. Die Ukraine verteidigt sich von innen her und hat den Vorteil der kurzen Linie. Daran wird sich grundsätzlich nichts ändern. Die Ukrainer werden versuchen, noch weitere Versorgungswege der Russen zu durchbrechen, etwa die Brücke von Kertsch zur Krim zu zerstören oder Mariupol einzunehmen.

Ukrainische Soldaten in Charkiw

Ukrainische Soldaten stehen auf einer Landstraße in dem befreiten Gebiet in der Region Charkiw.

Haben die Ukrainer denn die Ressourcen für noch weitere Offensiven, etwa Richtung Mariupol?

Das könnte sein. Sie haben etwa 80 km nördlich mehrere Brigaden stehen. Wenn die russische Front sich weiter zersetzt, könnte ein Vorstoß nach Mariupol möglich werden.

Wie kann es überhaupt sein, dass die Ukraine bei Charkiw, dicht an der russischen Grenze, so eine große Offensive vorbereitet – und die Raumfahrtnation Russland mit ihren Aufklärungssatelliten bekommt das nicht mit?

Satelliten allein genügen da ja nicht. Wichtiger sind die Fähigkeiten zur taktischen Aufklärung, etwa durch Drohnen und Flugzeuge. Diese scheinen im Raum Charkiw stark eingeschränkt gewesen zu sein. Und die russischen Truppen waren ausgedünnt und demoralisiert. Gut möglich, dass die Ukrainer an anderer Stelle eine Wiederholung versuchen. Bei Cherson wird es schwieriger, weil die Russen dort viel stärker aufgestellt sind. Aber ihre Verbindungslinien über den Dnipro sind unterbrochen, so dass es nur eine Frage der Zeit sein wird, wann die Ukrainer das Gebiet um Cherson wieder übernehmen können.

Aber auch sie hätten dann das Problem, wie sie auf das andere, das östliche Dnipro-Ufer kommen könnten.

Das wird man sehen. Es gibt Hinweise, dass Kapitulationsverhandlungen zwischen der Ukraine und russischen Kommandeuren geführt werden, mit dem Ziel, dass die Russen westlich von Cherson unter Zurücklassung ihrer Waffen abziehen können. Das deutet nicht darauf hin, dass auf russischer Seite ein großer Kampfeswille vorhanden ist. Die Frage stellt sich, ob die Russen noch die Fähigkeiten und die Motivation haben, die eroberten Gebiete zu verteidigen. Russland Hauptproblem sind die fehlenden Infanteristen. Derzeit wird alles zusammengezogen, was man aufbringen kann, aber diese Leute sind hauptsächlich Kanonenfutter.

Bei uns treiben die jüngsten Erfolge der Ukraine die Debatte um die Lieferung von Kampf- und Schützenpanzern an. Kanzler und Verteidigungsministerin sagen: nur in Absprache mit den Alliierten, die anderen liefern solche Geräte auch nicht. Ist ein Marder tatsächlich gefährlicher als ein Mars-II-Raketenwerfer?

Natürlich nicht. Ich kann diese Politik des Bundeskanzlers und seiner Partei nicht mehr nachvollziehen. Angeblich würden Panzerlieferung die Gefahr eines Atomkrieges nach sich ziehen. Aber ich sehe nicht, wo die rote Linie verläuft. Aus vielen westlichen Ländern wurden Panzer sowjetischer Bauart an die Ukraine geliefert. Aber warum die Lieferung ehemals sowjetischer Panzer durch Polen vertretbar ist, die Lieferung alter Marder-Schützenpanzer oder alter Leopard 1 Panzer aus Deutschland angeblich einen Weltkrieg auslösen soll, ist mir rätselhaft. Und ich bin nicht der einzige, dem es so geht. Es ist ja auch nur noch die SPD, die diese Begründung vertritt. Die SPD hat sich damit isoliert, und ich bin gespannt, wie lange sie diese absurde Position noch durchhält.

Aber die Anhänger der restriktiven Linie könnten doch sagen, die Ukraine hat mit der bisher gelieferten Ausrüstung so große Erfolge, dass es reicht.

Wenn wir Marder-Schützenpanzer geliefert hätten oder die 90 Leopard 1, die bei uns herumstehen und die die Bundeswehr nicht mehr braucht, dann hätte die Ukraine schon viel mehr Offensivoperationen durchführen können, und viele ukrainische Soldaten hätten nicht sterben müssen. Wir erleben bei Charkiw eine Offensive, die Ukraine hätte mit mehr Panzern auch zwei oder drei führen können.

Aber könnte ein in die Enge getriebener russischer Präsident Putin nicht wirklich irrationale Entscheidungen treffen, etwa einen Reaktor oder einen Staudamm in die Luft jagen lassen?

So einfach ist das nicht. Die Reaktoren in Saporischjscha sind recht sicher, die Russen könnten allenfalls die Kühlung der abgebrannten Brennstäbe unterbrechen. Dann hätten wir eine regional begrenzte Verstrahlung. Bei Attacken auf Staudämme wüsste ich nicht, wen sie damit genau treffen wollen. Die Russen zerstören ja tatsächlich viel Infrastruktur, was sozusagen ihre Rache an den Ukrainern ist. Es ist nicht gänzlich ausgeschlossen, dass Russland taktische Atomwaffen einsetzt, um die Ukraine zur Kapitulation zu zwingen. Das wäre eine fatale Entwicklung, die allerdings für Russland nicht ohne Folgen bliebe und wo ich nicht einmal sicher bin, ob sich die Ukrainer zur Kapitulation entschließen würden. Russlands „Spezialoperation“ hat einen Volkskrieg der Ukraine gegen Russland ausgelöst, und ein Volkskrieg hat seine eigene Dynamik. Aber es ist unwahrscheinlich, dass Russland wegen der Ukraine einen Nuklearkrieg mit dem Westen beginnen würde. Der wäre für Moskau unkontrollierbar. Ein Präsident, der sich nicht einmal traut, eine Generalmobilmachung anzuordnen, wird keinen Atomkrieg auslösen. Putins größter Fehler ist, dass er durch seine Uneinsichtigkeit sein Militär und das ganze Land an die Wand fährt. Das sollten wir als Chance begreifen, nicht als Gefahr. Es kann nicht mehr lange gut gehen für Putin, für Russland und seine Streitkräfte, die so ausgedünnt sind, dass das auch für verantwortungsbewusste russische Militärs nicht mehr hinnehmbar ist.

Also Sie meinen, es könnte Putin wirklich selbst an den Kragen gehen und nicht nur dem Verteidigungsminister, dem Generalstab, den Geheimdiensten?

Putin ist das Problem! Bis vor einer Woche hätte er die Chance gehabt, einen einseitigen Waffenstillstand anzukündigen. Durch Druck auf die westlichen Staaten hätte er versuchen können, die Ukrainer zu zwingen, sich diesem Waffenstillstand anzuschließen. Diese Chance hat er vertan, weil er meinte, seine sogenannte Spezialoperation unbedingt erfolgreich bis zum Ende führen zu können. Jetzt haben die Ukrainer sozusagen Blut geleckt und sehen die Möglichkeit, die besetzten Gebiete zu befreien. Ich weiß nicht, wie Putin innenpolitisch aus dieser Lage herauskommt. Ich kann mir vorstellen, dass das Militär gegen ihn putscht. Aber vorstellen ist das eine, vorhersagen das andere.

Könnte die Ukraine sogar eine Rückeroberung der Krim schaffen?

Ich schließe das nicht aus.

Aber wie immer der Krieg endet, die Russische Föderation wird ja weiter bestehen. Wie können wir mit diesem Staat umgehen?

Sofern es in absehbarer Zeit keinen kompletten Machtwechsel gibt, bleibt Russland ein Staat, der unserer Vorstellung von internationaler Ordnung völlig feindselig gegenübersteht. Wir werden keinen Frieden mit Russland bekommen, sondern einen Frieden gegen Russland organisieren müssen. Das wird sich erst einmal nicht ändern, denn es gibt in Russland keine organisierte Opposition gegenüber Putin, und das Gefühl ist dort weit verbreitet, dass Russland eine eigene, den anderen überlegene, Zivilisation sei und dass der Westen dekadent sei und deshalb Russland grundsätzlich feindlich gegenüberstehe. Wir werden auf absehbare Zeit mit einem feindseligen Russland leben müssen. Die Geographie lässt sich ja nicht ändern. Wir haben eine ähnliche Situation im Kalten Krieg gehabt und können nur hoffen, dass sich Russland mit dieser Konfrontationshaltung übernimmt und sich dort irgendwann vernünftige Leute durchsetzen. Das kann wieder zwei oder drei Jahrzehnte dauern.