Jede zweite Person in Deutschland ist heute älter als 45, jede fünfte Person älter als 66 Jahre. Demografie-Experte Professor Tilman Mayer skiziert im Interview, wie sich die Gesellschaft dadurch verändert.
Interview mit Demografie-Experte„Der Anteil einsamer Menschen wird wachsen“
Im internationalen Vergleich gehört die deutsche Gesellschaft zu den ältesten. Welche Auswirkungen hat das auf die Volkswirtschaft?
Alternden Gesellschaften wird meistens nachgesagt, dass sie weniger innovativ sind. Das Altern an sich ist ja nicht das Problem, sondern der Mangel an Nachwuchs. Und das tangiert die Volkswirtschaft zurzeit erheblich, Stichwort Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel.
Sie sagten einmal, der zunehmend hohe Anteil an alten Menschen stelle die Gesellschaft vor größere Herausforderungen als die Migration. Abseits von Finanzen und Sozialsystem: Wie wird sich durch die veränderte Demografie die Gesellschaft ändern? Wird es Rivalitäten zwischen Erwerbstätigen und Rentnern geben? Oder zwischen Familien, die sich mit kleinen Wohnflächen beschränken müssen, und Senioren, die vielleicht in großen Altbauten mit Gleichaltrigen WGs einrichten?
Dass es zu Konflikten zwischen Altersklassen kommt, wird eigentlich nicht erwartet. In der Familie kommt es sogar zur gegenseitigen Hilfe, auch in finanzieller Hinsicht. Das Konzept des Wohnungstausches existiert, lässt sich aber in der Praxis viel weniger umsetzen. Es scheint wenig praktikabel zu sein. Wohngemeinschaften für Ältere haben sich als Modell im Umfeld des Bremer ehemaligen Regierungschefs Henning Scherf verwirklichen lassen, mit bundesweiter Ausstrahlung. Von einem Erfolgsmodell kann allerdings nicht der Rede sein.
Wenn auf vergleichsweise weniger Erwerbstätige eine höhere Zahl an Rentnern kommt, ist damit zu rechnen, dass die Sozialabgaben steigen. Ist dann ein Teufelskreis zu erwarten – weil der nachkommenden Generation weniger Spielraum für die private Altersvorsorge bleibt, so dass mit neuer Altersarmut zu rechnen ist?
Jedenfalls ergibt sich eine höhere Belastung der jüngeren Generation. Und wenn man daran denkt, dass die sogenannten „Babyboomer“, die zwischen 1955 und 1970 Geborenen, im Durchschnitt gut situiert sind, verlangt man von der nachwachsenden Generation vielleicht zu viel. In der Konsequenz der Alterung wird eine längere Lebensarbeitszeit unvermeidlich sein, zumal diese Seniorengruppe insgesamt gesundheitlich in relativ guter Verfassung ist.
Menschen im Renteneintrittsalter wären teilweise durchaus bereit, länger zur arbeiten, fühlen sich aber durch den technischen Wandel abgehängt oder auch aufgrund konservativerer Ansichten diskriminiert. Was kann man tun, um dieser Problematik zu begegnen, und wen sehen Sie da in der Verantwortung?
Leider ist nur eine Minderheit von Befragten zum längeren Arbeiten bereit. Die sprichwörtliche Arbeitsorientierung der Deutschen ist Vergangenheit. Der Gesellschaft würde es helfen, wenn die Lebensarbeitszeit sich erhöhte. Angebote, die digitale Kompetenz im Alter zu steigern, gibt es zu wenige. Ältere werden zu früh als „im Digitalisierungszeitalter nicht oder weniger vermittelbar“ ausgesondert. Das können wir uns im Alterssicherungssystem eigentlich nicht leisten.
Familienstrukturen brechen zunehmend auseinander, Großfamilien gibt es kaum noch. Ändert sich auch dadurch das Zusammenleben?
Der Rückgang der Großfamilie hat jedenfalls das Fertilitätsvolumen (Menge der Frauen, die Kinder haben, Anmerkung der Redaktion) anteilsmäßig deutlich reduziert. Insofern ist er hauptsächlich dafür verantwortlich, dass die Bevölkerungszahl, wenn es keine Migration gäbe, zurück gehen würde.
Paare wird es weiterhin geben, auch Zweigenerationenverhältnisse. Menschen leben glücklicher in derartigen Konstellationen. Je diverser und heterogener die Gesellschaft ist, desto eher finden Paartrennungen statt. Es gibt eine Tendenz zur Parole: „gleich und gleich gesellt sich gerne“, während die Aussage: „Gegensätze ziehen sich an“ eher auf dem Rückzug ist.
Werden sich Freizeitangebote und Infrastruktur der Gesellschaft eher an den Bedürfnissen der älteren Menschen orientieren?
Jedenfalls werden die Interessen älterer Menschen stärker zu berücksichtigen sein, zumal bei zahlungsfähigen Senioren. Die Wohnungswirtschaft ist davon betroffen, weil kleinere Wohnungen für Senniorinnen und Senioren gesucht werden, entsprechend gibt es eine größere Nachfrage in diesen Altersklassen. Auch die gesundheitliche Versorgung zu organisieren, wird wirtschaftlich attraktiv.
Zur Person
Professor Tilman Mayer lehrte Politische Theorie, Ideen- und Zeitgeschichte am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Bevölkerungsentwickung, zu der er 1999 seine Schrift „Die demographische Krise – eine integrative Theorie“ vorlegte (Campus, 480 Seiten). Auf den direkten Zusammenhang von Sozialpolitik, Frauenpolitik, Familienpolitik und Migrationspolitik wies Tilman Mayer als einer der ersten hin. (jot)
Demenz, Einsamkeit und Armut sind Themen, die viele Menschen im Alter treffen. Wird sich unsere Vorstellung vom idealen Lebensabend verändern? Werden Menschen nicht mehr davon träumen, möglichst alt zu werden? Werden wir es in 30 Jahren noch als Erfolg verbuchen, dass die Medizin ein hohes Lebensalter möglich macht?
Von der Mehrheit der Menschen wird es begrüßt, dass die Lebenserwartung noch immer zunimmt. Auf der anderen Seite treten neurodegenerative Strukturen im Alter stärker auf. Sie werden also künftig, angesichts der alternden Bevölkerung, generell deutlich zunehmen, was die Gesellschaft insgesamt belasten wird. Vermutlich wird deshalb gesundheitspolitische Prävention eine höhere Akzeptanz finden als bislang, zum Beispiel Hinweise, frühzeitig mit Bewegung die eigene Gesundheit zu unterstützen. Ernährungsfragen spielen zunehmend eine Rolle, auch in der Forschung, nach dem Motto: „Welcher Ernährungsstil führt am ehesten zu einem gesunden Alterungsprozess?“ Hier scheint eine mediterrane Kostzusammenstellung den besten Erfolg zu versprechen.
Der Soziologe Dr. Reiner Gronemeyer sagt, das einzige, was in Gesellschaften wie der unseren noch wachse, sei die Zahl der Alten und Demenzkranken. Stimmen Sie ihm zu – und falls ja: Wie alarmierend ist diese Prognose?
In der Aussage liegt ja eine starke Zuspitzung. Sie ist nicht falsch, leider. Beide Entwicklungstrends gibt es. Aber Gesellschaften mit einem hohem Anteil alternder Menschen müssen, wenn sie funktionieren sollen, dennoch wirtschaftliche Wachstumsprozesse generieren können. Vielleicht haben gerade deshalb Jüngere eine größere Chance? Das wäre auch eine zutreffende Schlagzeile.
Die Gesellschaft altert, aber nicht alle werden alt sein, und auch die Demenz wird nur etwa die Hälfte der Menschen treffen – und das erst im hohen Alter.
Könnte unsere Zivilisation daran zerbrechen, den Umgang mit der wachsenden Zahl an Dementen zu bewältigen?
Jedenfalls wird der Umgang mit einem dementen Bevölkerungsanteil eine noch nicht erlebte Herausforderung sein. Insbesondere die Babyboomergeneration wird nun in ihre Ruhestandsphase eintreten. Insofern wird man quantitativ viel stärker die gesundheitspolitischen Aufgaben der Pflege organisieren und bewältigen müssen. Dazu gehört es, diese größere Welle an dementen Älteren altersgerecht und fürsorglich zu betreuen. Es werden insbesondere viele ältere Menschen, Familienangehörige oder gar Nachbarn für diese karitative Aufgabe sorgen müssen.
Einsamkeit im Alter grenzt jetzt schon viele Menschen aus. Verschärft sich diese Problematik – auch dadurch, dass die Schere zwischen gut situierten, vitalen und unternehmungslustigen „Alten“ und denen, die nicht teilhaben können, immer weiter auseinander geht?
Einsamkeit im Alter stellt eine Herausforderung dar, die sogar früher schon auftritt. Die geschrumpfte Familiengröße trägt dazu bei, dass es zu diesen Erscheinungen kommt. Es wird künftig verstärkt darauf ankommen, dass es Nachbarschaftshilfe gibt.
Es sind ja auch hier nicht alle Menschen einsam, aber der Anteil Einsamer wird wachsen. Insofern wird sich, auch schon jetzt, das private, familiäre, vereinsbezogen-organisierte Engagement für diese Gruppe der Einsamen, zu der nicht nur ältere Menschen gehören, vergrößern. In Großbritannien gibt es bereits ein Ministerium für diese Angelegenheit, das heißt: Diese soziale Herausforderung ist mancherorts erkannt, aber sicherlich noch nicht gelöst – wenn das überhaupt je möglich sein wird.
Aufgrund ihrer Vitalität starten viele nach dem Austritt aus dem Erwerbsleben eine „zweite Karriere“ im Bereich des Ehrenamtes. Inwiefern liegt darin eine Chance für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?
Selbstverständlich wird der gesellschaftliche Zusammenhalt dadurch gestärkt. Das Ehrenamt wird auch schon früher aufgegriffen, insgesamt von mehr wohlhabenden Gesellschaftskreisen. Es bedeutet eine soziale Integration, das auch den Aktiven im Ehrenamt, zumal wenn sie älter sind, in gesundheitlicher Hinsicht gut tut. Eine alternde Gesellschaft ist ohne ehrenamtliche Unterstützung nicht human gestaltbar.