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Interview mit dem „Renten-Papst“Ist die Rentenpolitik auf dem Holzweg, Herr Raffelhüschen?

Lesezeit 6 Minuten
ARCHIV - Der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen posiert am 09.01.2014 in Freiburg (Baden-Württemberg).

Übt harsche Kritik an Arbeitsminister Heil: Bernd Raffelhüschen. Foto: dpa

Bundeskanzler Olaf Scholz hat eine neue Debatte über die Lebensarbeitszeit losgetreten. „Renten-Papst“ Bernd Raffelhüschen rechnet im Interview mit der SPD-Politik ab – und legt Alternativen dar.

Herr Raffelhüschen, Olaf Scholz sagt, die Menschen müssten länger arbeiten. Wie interpretieren Sie das?

Ich höre da eine volle Kehrtwende heraus. Seit 15 Jahren kämpft die SPD nur dafür, dass die Menschen kürzer arbeiten. Sie hat die abschlagsfreie Rente mit 63 eingeführt, eine stetige Anhebung der Renten garantiert und die Hinzuverdienstmöglichkeiten für Nicht-Rentenversicherte angehoben. Das alles geht komplett in die falsche Richtung, und das hat Kanzler Scholz nun begriffen.

Er selbst spricht von einem Appell an Arbeitgeber, Mitarbeiter bis zum regulären Renteneintrittsalter zu halten und nicht schon früher aufs Altenteil zu schicken. Hat er da keinen Punkt gemacht?

Höchstens einen ganz kleinen, denn diese Zeiten sind vorbei! Heute ist jeder Arbeitgeber froh, wenn er seine Mitarbeiter halten kann, so lange es geht. Wir sind doch sehenden Auges in einen dramatischen Fachkräftemangel geraten. Die bizarren Ausnahmen der von Franz Müntefering eingeführten Rente mit 67 haben diese Entwicklung noch verschärft.

Die abschlagsfreie Rente mit 63 gibt es doch gar nicht mehr. Die Grenze steigt auf 65 Jahre, und wer’s macht, bekommt am Ende bis zu 14,4 Prozent weniger raus…

Es stimmt, bis 2030 wird aus der Rente mit 63 die Rente mit 65, aber das frühere Ausscheiden mit geringen Abschlägen bleibt möglich, und das heißt, es wird noch viel zu viele vorgezogene Ruheständler geben. De facto liegt das Eintrittsalter zwischen 62 und 63 Jahren! Deswegen: Die Regelung muss weg, sie hätte nie in Kraft treten dürfen. Meine Erwartung ist ohnehin, dass der Arbeitsmarkt vieles selbst richten wird, weil es sich für gesetzlich Versicherte lohnt, auch über das reguläre Renteneintrittsalter hinaus zu arbeiten. Denn jedes Jahr bringt 4,8 Prozent höhere Bezüge.


Zur Persin

Bernd Raffelhüschen (65) ist Professor für Finanzwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und einer der profiliertesten Rentenexperten des Landes. Er gilt als wirtschaftsliberal und wirbt unter anderem für eine Ergänzung des umlagefinanzierten Rentensystems durch eine kapitalbasierte Rente. (EB)


Ob Handwerker oder Krankenpfleger, sind nicht ganz viele vorher am Limit?

Das Gerede von Abertausenden Dachdeckern, die nicht mehr aufs Dach können, das ist völlig übertrieben. Der Anteil derer, die am Ende ihrer Kräfte sind und für die es in den Betrieben keine angemessenen Jobs mehr gibt, ist so klein, dass er bei der Sicherung des Systems nicht ins Gewicht fällt. Und wer aus gesundheitlichen Gründen früher ausscheiden muss, bekommt eine Erwerbsunfähigkeitsrente, das hat also nichts mit der Debatte über die gesetzliche Rente zu tun.

Bei aller Kritik an Kanzler und SPD: Ist die Anhebung des Mindestlohns nicht ein zentraler Baustein, um die Renten sicher zu machen?

Das ist eine andere Flanke. Diejenigen, die zu früh in Rente gehen, verdienen bis auf ganz wenige Ausnahmen sehr viel mehr als 12 Euro pro Stunde. Was ich Olaf Scholz zugute halte, ist das richtige Signal: Wir brauchen jede Hand, jeden Facharbeiter und jede Facharbeiterin. Die Frauenerwerbsquote ist in den vergangenen Jahren deutlich erhöht worden. Das Potenzial, das es jetzt rasch zu nutzen gilt, liegt in den älteren Beschäftigten. Sie müssen wir im Job halten.

Bis wann müssten die Menschen in Deutschland denn Ihrer Ansicht nach arbeiten, um das System wieder ins Gleichgewicht zu bringen?

Was heißt Gleichgewicht? Ich finde, wir müssen erreichen, dass die Jüngeren für ein Jahr Rentenbezug genauso lange arbeiten müssen wie die älteren Generationen. Die Relation von Einzahlzeit zu Bezugszeit muss stabil bleiben, damit es fair zugeht zwischen Jung und Alt. Und dafür müsste die steigende Lebenserwartung berücksichtigt werden.

Geht es konkreter?

Tatsächlich wäre die Auswirkung relativ bescheiden. Wer 2045 in Rente geht, müsste womöglich bis 68 Jahre arbeiten statt bis 67. Bis 2060 würden daraus vielleicht 69 Jahre. Also: Wir sprechen hier nicht über die Rente mit 70 oder darüber hinaus. Es geht um verschmerzbare Anpassungen für diejenigen, die statistisch auch länger leben werden als die heutigen Rentner, also auch länger etwas von ihrer Rente haben. Wir brauchen die Koppelung des Renteneintrittsalters an die steigende Lebenserwartung, so wie es viele skandinavische Länder vorgemacht haben. Und wir müssen die Beiträge stabil halten.

Was ist davon zu halten, dass Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil das Gegenteil will, nämlich das Rentenniveau stabil halten will?

Das ist der völlig falsche Schritt, so wie er in seiner Zeit als Arbeitsminister eigentlich nur eine Folge von falschen Schritten unternommen hat. Hubertus Heil war das größte Unheil für die Rentenversicherung, das wir erlebt haben. Die Regierung von Gerhard Schröder hat mit der Agenda 2010 und Müntefering mit der Rente mit 67 die absolut richtigen und wegweisenden Entscheidungen getroffen. Es war die SPD, die das System stabilisiert hatte. Danach ging alles in die verkehrte Richtung. Die Renten an die Lohnentwicklung zu koppeln ist absurd. Das heißt nichts anderes, als dass die Beitrags- und Steuerzahler der Zukunft verantwortlich dafür gemacht werden, dass sie so wenige sind. Stattdessen müssten die Bezüge für die Babyboomer gesenkt werden, weil sie weniger Kinder in die Welt gesetzt haben. Sie haben schließlich das Problem verursacht, für das sie ihre Nachkommen haften lassen wollen. Hubertus Heil stellt das Verursacherprinzip auf den Kopf. Ich hoffe, dass Olaf Scholz dem ein Ende bereitet und Hubertus Heil aufhält.

Wenn die Politik der Ampel Murks ist, was sind Ihre Gegenvorschläge?

Tja, leider ist nicht alles zu retten. Wir können die geburtenstarken Jahrgänge nicht mehr vor einem niedrigeren Rentenniveau bewahren. Das hätte nur funktioniert, wenn der konsequente Weg, der vor 20 Jahren eingeschlagen wurde, nicht abgebrochen worden wäre. Wenn schon damals die Aktienrente eingeführt worden wäre, wenn seitdem keine Anreize zum frühen Ausscheiden aus dem Job geschaffen worden wären. Für eine Kapitaldeckung braucht man 30 Jahre. Mit Blick auf die nun in Rente gehenden Babyboomer heißt das leider: Die Medizin wirkt, wenn der Patient tot ist.

Was folgt, wenn trotz allem das Rentenniveau stabil gehalten wird?

Ganz klar: Dann müssen Arbeitnehmer bald 26 bis 28 Prozent ihres Lohnes in die Rente einzahlen, und zusätzlich müssen ein bis zwei Prozentpunkte des Bundeshaushaltes in die Rentenkasse fließen. Auch die Krankenkassenbeiträge werden hochgehen. Eine Sozialabgabenquote von 55 Prozent, ist das den Jüngeren zumutbar? Nein. Es ist absehbar, dass der Generationenvertrag infrage gestellt werden wird. Wir laufen in ein hartes Verteilungsproblem zwischen Jung und Alt, daran führt kein Weg mehr vorbei.

Würde ein niedrigeres Rentenniveau nicht viele Ältere in Armut stürzen?

Ein ganz klares Nein! Die Realität ist: Es gibt heute keine Gruppe in Deutschland, die weniger von Armut bedroht ist als alte Menschen. Wenn die Leute nicht länger arbeiten, dürfte der Anteil durch ein niedrigeres Rentenniveau allenfalls leicht wachsen. Wird hingegen länger gearbeitet, kann die Altersarmut noch weiter gedrückt werden. Und genau da müssen wir hinkommen.