Interview mit Bischof„Homosexuelle wurden auch durch die Kirche abgewertet“
- Helmut Dieser ist seit 2016 Bischof von Aachen
- Mit ihm hat Raimund Neuss über den Zustand der katholischen Kirche, Fehler der Vergangenheit und die Ausrichtung auf die Zukunft gesprochen
Köln – Die katholische Kirche in Deutschland ist gerade durch das Münchner Gutachten tief erschüttert worden, sogar ein ehemaliger Papst steht im Feuer. Man hat den Eindruck, das höre gar nicht mehr auf. Was heißt das alles für die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche?
Helmut Dieser: Wir müssen lernen, dass das bischöfliche Amt nicht vor Fehleinschätzungen und vor irrtümlichen Handeln gefeit ist. Das zu bekennen, ist keine Schande, das ist nur menschlich. Jeder, auch ein ehemaliger Papst, wird an einen Punkt kommen, an dem er sagen muss: Ich habe heute eine andere Sicht als damals und bedaure, dass ich damals so gehandelt habe und nicht anders. Auch ich selbst muss mich als Bischof nach fünf Amtsjahren fragen, ob ich alles noch einmal so machen würde wie in meinen ersten Amtsjahren. Damals zum Beispiel habe ich ziemlich forsch den synodalen Reformprozess „Heute bei dir“ gestartet. Es ist keine Schande, einzugestehen, dass ich das heute, nach bitterem Lernen, anders machen würde. In Bezug auf die Missbrauch-Aufarbeitung müssen wir als Bischofskonferenz nachdenken, ob wir nicht so weit kommen, dass alle Bistümer in einem bestimmten Zeitfenster diesen Aufarbeitungsprozess grundsätzlich angehen. Ich kann nur allen raten, das klug und mutig anzugehen und nicht zu zögern.
Das Bistum Aachen hat sehr früh ein Gutachten zum Umgang mit sexualisierter Gewalt vorgelegt …
Wir haben von Anfang an mit der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl zusammengearbeitet und haben diesen Weg bis zum Ende beschritten. Wie wir es versprochen hatten, haben wir das Gutachten veröffentlichen lassen, bei dem wir auch selbst nicht wussten, was darin stehen würde. Die sich daraus ergebenen Aufträge arbeiten wir konsequent ab. Aktuell haben sich die Betroffenen getroffen, die aus ihrem Kreis heraus einen eigenen Betroffenenrat bilden sollen. Es ist entscheidend, dass der Rat seine eigene Agenda setzt, um mit uns im Bistum auf Augenhöhe sprechen zu können. Sie konstituieren sich selbst und geben sich selbst eine Satzung.
Haben Sie denn in Aachen erleben dürfen, dass einmal ein früherer Amtsträger, Altbischof Heinrich Mussinghoff oder Ex-Generalvikar Manfred von Holtum, sagt, ja, wir haben das damals so gemacht und sehen es heute anders?
Das ist ein trauriger Punkt, das ist nicht in der Weise erfolgt, wie ich es gehofft hatte. Der frühere Generalvikar hatte im Vorfeld des Gutachtens sein Bedauern ausgedrückt, dabei ist es geblieben.
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Steht das, was an Anerkennungsleistungen ausgeschüttet wird, in einem angemessenen Verhältnis zu dem Leid, das den Betroffenen widerfahren ist?
Dieses entstandene und unerträgliche Leid wird durch Geld nie angemessen aufzufangen sein. Es ist wichtig, , dass wir dieses Verfahren nicht als Kirche selbst betreiben, sondern durch ein unabhängiges Gremium. Dieses stützt sich auf die gültigen Schmerzensgeldtabellen, wie sie auch Gerichte anwenden. Eine Einflussnahme verbietet sich. Es kommt zu Fällen, in denen Betroffene den Betrag als zu niedrig und damit als neuerliche Kränkung empfinden. Manche sind auf das Geld wirklich angewiesen. Manchen ist die Höhe um der Symbolik willen wichtig, sie möchten daran erkennen, dass ihr Leid wirklich in seinem ganzen Ausmaß verstanden wird. ,Als Bistum können wir aus der Systematik nicht ausscheren und individuell aus dem Finanzhaushalt etwas dazu steuern. Dann kommt es zu einer neuerlichen Ungleichbehandlung. Ich betone, dass für die Anerkennung des Leids keine Kirchensteuerzahlungen verwendet werden. Für Betroffene gibt es seit kurzem die Möglichkeit, bei der Unabhängigen Kommission für die Anerkennungsleistungen einmalig Einspruch zu erheben, der dann von der unabhängigen Kommission neu geprüft wird.
Zum Interview mit Bischof Helmut Dieser, Teil 2
Bald tritt wieder eine Vollversammlung des Synodalen Weges zusammen, Sie selbst sind Co-Vorsitzender des Forums zu Leben in gelingenden Beziehungen. Kann die katholische Kirche überhaupt noch glaubwürdig über Liebe und Sexualität reden, sollte sie nicht einfach für einige Zeit schweigen?
De facto schweigen wir seit Jahren, und zwar schon seit der Enzyklika Humanae Vitae, also dem von Papst Paul VI. 1968 ausgesprochen Verbot künstlicher Empfängnisregelung. Die rigiden Forderungen des Lehramts in Sachen Sexualität haben zu tiefen Verletzungen geführt. Gerade bei Frauen, die im Beichtstuhl über ihr Eheleben Auskunft geben sollten und massiv unter Druck gesetzt wurden. Aus diesen Erfahrungen haben wir die Konsequenz des Schweigens gezogen.
Aber jetzt wollen Sie wieder darüber reden …
Sexualität und Intimität sind der Bereich, in dem Menschen am tiefsten verwundbar sind. Deshalb ist auch sexuelle Gewalt so zerstörerisch. Sexualität ist etwas Kostbares, nichts zum Schämen und Verdrängen. Deshalb sprechen wir von Leben in gelingenden Beziehungen. Es geht um Liebe, es geht um Weitergabe des Lebens – dabei bleiben wir –, es geht aber auch um Identität, um den Kern der Person. Und es geht um die Erfahrung des absoluten Geliebtseins. Dies kann eine Erfahrung der absoluten Liebe Gottes vermitteln. Das wird in der Theologie des Ehesakraments vermittelt, aber viele Menschen empfinden es so, dass sie da durchs Raster fallen. Dass sie wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert, ausgegrenzt werden. Nun sagen wir: Die sexuelle Orientierung ist eine Gabe Gottes. Sie ist nicht zu hinterfragen, sondern sie muss in die Nachfolge Gottes geführt werden. Also muss es möglich sein, dass homosexuelle Menschen eine Paarbeziehung führen können in Liebe und Treue.
Wenn sich Homosexuelle von der Kirche diskriminiert sehen, erheben sie diesen Vorwurf zu Recht?
Ich glaube schon, dass wir es mit Diskriminierung zu tun haben. Homosexuelle wurden auch durch die Kirche abgewertet und kriminalisiert. Hier ist auch ein Schuldbekenntnis fällig. Daran arbeiten wir.
Aber was kann Ihr Synodalformen hier ändern? Wir reden über Kirchenrecht und Definitionen im Katechismus. Über Texte, die in Rom gemacht werden.
Es gibt eine weltweite synodale Bewegung, die der Papst ausgerufen hat. Und ich hoffe, dass wir die Themen, über die wir sprechen und zu denen wir hoffentlich Beschlüsse mit Zwei-Drittel-Mehrheit erreichen, dort einbringen können. Der Papst spricht von einer Inkulturation des Evangeliums: Es gibt Kernpunkte, die den katholischen Glauben ausmachen, aber es gibt auch eine legitime Vielfalt. Wir müssen in einer säkularen, pluralenGesellschaft in Westeuropa das Evangelium vielleicht anders leben als in Osteuropa, Afrika, Lateinamerika. Wenn wir in Deutschland homosexuelle Partnerschaften segnen, müssen es nicht alle anderen auch so machen, aber wir hoffen auf Anerkennung, dass unser Weg katholisch ist.
Und Sie müssten auch anerkennen, dass ein afrikanisches Erzbistum es anders handhabt?
Ja, auch das müssten wir dann anerkennen.
Würden Sie Ihre Priester zur Segnung von Homosexuellen ermächtigen?
Bisher argumentiere ich, das sei eine Gewissensfrage der einzelnen Seelsorger. Ich möchte aber weiterkommen und eine Grundlage haben, auf der ich das in unserem Bistum für möglich erklären kann. Und ein Beschluss des Synodalen Weges mit Zwei-Drittel-Mehrheit wäre eine solche Grundlage. Wir müssen das natürlich in Rom vorlegen. Umgekehrt können nicht so tun, als sei ein solcher Beschluss nichts. Es gibt ein Lehramt der Bischofskonferenzen.
Zum Interview, Teil 3
Nun gibt es in der Bischofskonferenz auch Mitglieder wie den Kölner Kardinal Woelki, die vor Spaltungstendenzen warnen.
Ich rede nicht gern von Spaltung. Das Wort wird am liebsten von denjenigen verwendet, die etwas verhindern oder aber unbedingt durchsetzen wollen und nicht bereit sind, mit der Mehrheit der Bischöfe mitzugehen. Die Spaltung könnten wir auch bekommen, wenn wir nichts tun. Wenn nichts geschieht, sind wir endgültig weg. Ich glaube, dass wir gute theologische Argumente formulieren, die keine Spaltung beschreiben, sondern ein Weiterdenken des christlichen Menschenbildes im Dialog mit den Wissenschaften.
Und wenn der Synodale Weg darüber diskutiert, ob man noch geweihte Priester braucht?
Die Frage nach dem Weihepriestertum ist eine zentrale Frage. Wir müssen neu begründen, warum alle Menschen vor Gott gleich sind und den vollen Zugang zu Christus haben und es trotzdem den besonderen Dienst des Priesters braucht. Zumal die Frage dazukommt: Warum nur Männer? Die Kirche muss sich dem stellen.
Und was kann man da antworten? Eine Frau könnte zum Beispiel kein Bistum leiten.
Wenn es dabei bleibt, was die letzten Päpste betont haben, dass nur Männer Priester werden können, auch dann ist nur diese eine Frage entschieden. Aber nicht die Frage, wie dann Partizipation aussehen kann. Man muss sich dann ja im Einzelnen anschauen, welche Befugnisse zwingend mit dem Priesteramt verbunden sein müssen. Das Amt also sozusagen depotenzieren.
Könnte es denn beim Diakonat der Frauen Fortschritte geben?
Hier sieht es besser aus, denn das hat es in der Geschichte bereits gegeben. Darauf kommt es in der katholischen Kirche an: Wir führen nichts Neues ein, sondern etwas, nach dem unsere Zeit verlangt, das der Kirche aber nicht fremd ist.
Sie haben vorhin die Hoffnung darauf geäußert, solche Themen auch im Prozess der Weltsynode einbringen zu können. Wird das gelingen? Oder fährt der Zug für die Weltsynode nicht viel zu schnell?
Es kann sein, dass sich da ganz andere Themen in den Vordergrund schieben. Aber ich weiß auch von Stimmen, die sagen, wir schauen da ganz genau auf das, was Ihr in Deutschland macht. Und es ist gut, dass Ihr diese Themen ansprecht. Das ist ja der Freimut, den der Papst sich wünscht. Man kann nicht offenes Reden und intensives Zuhören fordern und dann sauer über das sein, worüber wir reden. Das geht nicht.
Reform-Gegner wenden ein, die evangelische Kirche habe ja schon viel mehr geändert, und das habe ihr nicht viel geholfen, also lasse man besser alles beim alten, 1870 vielleicht oder bestenfalls 1965.
Diese Stimmen tun so, als gehe es um Forderungen von außen, mit denen die Kirche unter Druck gesetzt werde. Das stimmt aber nicht. Es geht um unseren innersten Kern. Wir pilgern durch die Zeit, und dabei entstehen neue Fragen. Wir stehen immer in einer Auseinandersetzung mit der Gegenwart, und das ist ja das Faszinierende am Glauben: Dieses Nachdenken bricht nie ab. Wir brechen diesen Dialog nie ab und ziehen uns zurück. Der Dialog hilft uns, das Evangelium neu auszulegen. Das gefährdet uns nicht. Das hilft uns, Kirche zu sein – eine pilgernde Kirche, eine Kirche auf dem Weg. Und wir dürften darauf vertrauen, dass der Heilige Geist uns führt, wenn es darauf ankommt. Diese Zusage gilt doch auch 2022.
Aber wie groß ist die Kirche noch, die da pilgert? Kölns Apostolischer Administrator Rolf Steinhäuser sah die Kirche zuletzt auf dem Weg zur Großsekte.
Sekte bedeutet abgeschnitten zu sein, und das sind wir gerade nicht, wir bleiben im Dialog. Kirchen können auch in einer Minderheitenposition gesellschaftlich sehr wirksam sein könnten. Unverändert bin ich davon überzeugt, dass das christliche Menschenbild für große Teile unserer Gesellschaft grundlegend bleibt.
Muss das Thema Kirchenmitgliedschaft neu gedacht werden?
Wir müssen lernen, dass die Mitgliedschaft auf freier Entscheidung beruht. Das hat die Kirchen groß gemacht. Das können nicht einfach die Eltern für die Kinder regeln. Wir haben Menschen, die ganz bei uns sind, auch wenn sie sich noch nicht für ihre Taufe entscheiden konnten. Wir haben Getaufte, die längst woanders unterwegs sind. Es muss graduelle Formen der Kirchenmitgliedschaft geben. Das ist alles nicht einfach: Sollen wir Kinder taufen oder sie erst nur segnen, wenn die Eltern dies wünschen? Wichtig ist: Wir dürfen niemanden vereinnahmen.
Zum Interview, Teil 4
Wenn die Kirchen kleiner werden, hat das auch Folgen für Strukturen. Auch im Bistum Aachen gibt es große Sorgen, dass da Gemeinden mit bis zu 50.000 Gläubigen entstehen können. Wozu wird das führen, wie weit werden die Wege bis zum nächst erreichbaren Gottesdienst – gerade in dünn besiedelten Gebieten wie der Eifel?
Für die ältere Generation sind Gemeindefusionen ein riesiger Verlust, die alte Pfarrgemeinde ist die Heimat. Für die jüngere sieht es anders aus. Die Kirche wird sich ausdifferenzieren. Es wird nicht mehr alles überall geben, sondern unterschiedliche Formen des Kircheseins an unterschiedlichen Orten. Wichtig ist, dass überall das Katholische erkennbar ist und dass die Angebote vernetzt sind. So dass derjenige, der an einem Ort nicht das findet, was er braucht, erfährt, wo er es erreichen kann. Derzeit findet sich in einer Gemeinde alles zusammen: Der Pfarrer, das Pfarrhaus, die Kirche, die Sakramente, das Brauchtum, die Verwaltung. Wir haben die Gemeinden bloß immer größer gemacht. Dieses Modell stößt an Grenzen. In so großen Räumen können wir nicht mehr Pfarrei im alten Sinne sein.
Aber stellen Sie sich Kinder in der Eifel vor. Es geht um die Erstkommunion, die Firmung, die Messdienergruppe. Die Wege werden immer weiter, und Kinder haben keine Führerscheine. Wie wollen Sie diese Kinder noch erreichen?
Hauptamtlich kann ich nicht alles garantieren. Aber wir setzen auf eine Pastoral der Ermöglichung. Wenn es in einem Dorf die Initiative gibt, eine Erstkommunionfeier zu ermöglichen, dann werden wir das ermöglichen. Aber das wird dann eben nicht überall so sein. Dafür gibt es woanders andere Angebote. Es ist die Kraft der Gläubigen, die das aufbauen wollen. Das können wir als Bistum nicht zentral garantieren.
Dann müssten Sie aber auch irgendwann Laien Kompetenzen in der Gemeindeleitung geben.
Dahin müssen wir kommen. Schritt für Schritt.
Wenn man die Passagen des Ampel-Koalitionsvertrages etwa zu Sterbehilfe oder Abtreibung liest, dann hat man aber den Eindruck, die Kirchen dringen mit ihren Positionen kaum mehr durch. Stehen sie auf verlorenem Posten?
Ganz sicher nicht. Denn wir vertreten humane Werte, die wohl niemand missen möchte. Bleibt das menschliche Leben unantastbar? Oder geraten wir alle irgendwann in die Situation, in der man alte Menschen unter Druck setzt, es wäre besser, wenn sie jetzt gehen? Wenn wir gewerbliche Suizidbeihilfe zulassen, ist so eine Situation schneller da als wir denken. Und warum schützen wir das Leben nicht dort, wo es am schwächsten ist – vor der Geburt? Wenn wir von Abtreibung oder von Schwangerschaftsabbruch sprechen, verharmlosen wir, dass es hier um die Tötung eines Menschen geht.
Beim diesem Thema wird es konkret, das Justizministerium hat als ersten Schritt einen Referentenentwurf zur ersatzlosen Streichung des Paragrafen 219 a – Werbeverbot – vorgelegt.
Wir haben in der Vergangenheit mühsam einen Kompromiss errungen, der beides, den Schutz des ungeborenen Lebens und die Rücksicht auf Konfliktsituationen, verbindet. Ist es klug, das jetzt wieder aufzuschnüren? Das einseitig zu Lasten der ungeborenen Kinder lösen zu wollen?
Wird die Diskussion in der notwendigen Tiefe geführt?
Nein, hier gibt es Sprachverbote. Und es gibt Stimmen, die uns weismachen wollen, das Kippen des bisherigen Rechts sei im Sinne des Humanums. Da will man uns ein X für ein U vormachen, und hier müssen die Kirchen prophetisch sein. Und wir müssen auch vom Leid der Frauen sprechen, die abgetrieben haben und spüren, dass das eben nicht eine normale medizinische Behandlung war, sondern dass hier eine Existenz beendet wurde. Wir wissen ja, dass sogar Föten sich schon gegen ihre Zerstörung wehren. Sie können es nur nicht wirksam tun. Und wollen wir eine Gesellschaft, in der sein Leben verliert, wer sich nicht wirksam wehren kann? Oder: Wie wollen wir eine inklusive Gesellschaft sein, wenn wir schon Embryonen selektieren und sagen, Du könntest eine Behinderung entwickeln, Du sollst nicht geboren werden? Wir wollen keine einzelnen Menschen aburteilen. Aber es gibt Widersprüche, die wir ansprechen müssen.