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Interview mit Alexander Graf Lambsdorff„Die atomare Bedrohung war immer da“

Lesezeit 4 Minuten
Alexander Graf Lambsdorff

Alexander Graf Lambsdorff (FDP) 

  1. Nach anderthalb Wochen gibt es keinerlei Anzeichen für ein baldiges Ende de Krieges.
  2. Auf ein militärisches Eingreifen des Westens darf Kiew nicht hoffen, so FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff.

Muss die westliche Welt im Zweifel zusehen, wie die Ukraine zerstört wird? Ja, sagt der Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff von der FDP. Denn den Eintritt in einen dritten Weltkrieg, der nuklear geführt werden würde, werde die Nato weder riskieren noch verantworten wollen.

Zehn Tage dauern die Angriffe auf die Ukraine. Muss man erkennen, dass die Sanktionen gegen Russland ein stumpfes Schwert sind?

Das Gegenteil ist der Fall. Die Sanktionen sind ein sehr scharfes Schwert, aber ihr Wirkmechanismus ist ein völlig anderer als der von Waffen, wie sie in einem heißen Krieg zum Einsatz kommen. Es handelt sich um völlig unterschiedliche Instrumente der internationalen Politik.

Aber Sanktionen scheinen derzeit nicht geeignet, Putin zu stoppen...

Das darf man auch nicht von ihnen erwarten. Sanktionen wirken über die Zeit. Aber die Sanktionen gegen Russland sind jetzt so umfassend, wie sie einst nur gegen Südafrika zur Zeit der Apartheid waren. Es geht nicht mehr nur um Wirtschaft und Finanzen, sondern auch um Kultur und Sport. Das macht den Menschen deutlich, dass die Führung Russland zu einem Pariah-Staat gemacht hat.

Welche Trümpfe hat der Westen noch im Ärmel?

Die Ukraine kämpft wirklich heldenhaft. Anders, als viele im Westen das erwartet haben und vor allem anders, als man es wohl im Kreml erwartet hat. Deutschland hat mit der Ampel-Koalition beschlossen, Kriegswaffen in das Kampfgebiet zu schicken. Das ist ein Paradigmenwechsel. Insofern ist jetzt die Hoffnung, dass es gelingt, eine militärische Verzögerung zu erreichen, die in Moskau dazu genutzt wird, das eigene Vorgehen zu überdenken. Es ist doch vollkommen offen, wie der Krieg eigentlich wieder in eine politische Phase überführt werden soll, selbst wenn Russland ihn militärisch für sich entscheidet.

Deutschland hat weitere Waffen geliefert. Kann Putin das als direkte Einmischung in den Krieg verstehen, wovor er den Westen gewarnt hat?

Es ist in diesen Tagen schwer zu sagen, was Putin wie versteht. Er lebt in seiner eigenen Welt. Deutschland wird durch die Lieferungen aber nicht zur Kriegspartei, sondern stellt die Waffen lediglich zur Verfügung. Das ist etwas anderes als eine direkte Einmischung.

Viele Deutsche fürchten einen Atomkrieg. Wie berechtigt ist diese Angst?

Viele Menschen in Deutschland sind so aufgewühlt, weil sie das Leid der Menschen in der Ukraine sehen, aber auch, weil sie erstmals seit vielen Jahren wieder realisieren, dass das Ende des Kalten Krieges nicht das Ende des Zeitalters der Nuklearwaffen bedeutet hat, auch nicht das Ende des Krieges als Mittel der Politik. Die atomare Bedrohung war immer da, sie wurde nur ziemlich konsequent ausgeblendet. Tatsache ist, dass Russland das Land mit der zweithöchsten Anzahl an nuklearen Sprengköpfen ist. Und dass Putin in seiner derzeitigen Unberechenbarkeit angedeutet hat, er könnte zu dieser Waffe greifen, ist nicht beruhigend. Es bleibt meine Hoffnung, dass bei Putin und seinen Sicherheitsleuten die Einsicht da ist, dass ein Atomkrieg nicht zu gewinnen ist, sondern nur Verlierer kennt – und zwar in einem katastrophalen Ausmaß, das man sich gar nicht vorstellen kann.

Werden wir in den nächsten Wochen zusehen, wie die Ukraine in Schutt und Asche gelegt wird?

Aus ihrer Frage spricht ein Gefühl der Hilflosigkeit, das ganz viele Menschen teilen, auch viele in der Politik. Die Situation erinnert an den Tag des Mauerbaus am 13. August 1961, als die Ostdeutschen eingemauert wurden. So wie Joe Biden heute ausschließt, amerikanische Soldaten in die Ukraine zu schicken, so hat damals John F. Kennedy ganz klar gesagt, dass die USA nicht militärisch einschreiten würden, weil ansonsten der dritte Weltkrieg ausbräche. So ist es auch heute: Wir können militärisch nicht eingreifen, ohne den dritten Weltkrieg zu riskieren. Deswegen lautet die Antwort auf Ihre Frage, je nachdem, wie die russische Kriegsführung in den nächsten Wochen aussehen wird, vermutlich ja. Das Gespräch von Macron mit Putin hat in dieser Hinsicht leider keinerlei Anlass zu Optimismus gegeben.

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So tragisch das Schicksal der Menschen in der Ukraine ist: Den Eintritt in einen dritten Weltkrieg, der nuklear geführt werden würde, wird die Nato weder riskieren noch verantworten wollen.

Die EU setzt die Massenzufluchtrichtlinie in Kraft. Ukrainer benötigen weder Visum noch Asylverfahren. Wie viele Flüchtlinge kommen auf uns zu, wie könnten sie verteilt werden?

Wenn man sich mal die Ereignisse von 2015 vor Augen führt und zur Kenntnis nimmt, dass Syrien 20 Millionen Einwohner hat und über 3000 Kilometer entfernt ist, die Ukraine 40 Millionen Einwohner hat und von der deutschen Grenze keine 850 Kilometer entfernt ist, dann muss realistischerweise mit einer hohen Zahl von Flüchtlingen gerechnet werden. Die Szenen der Hilfsbereitschaft, die wir am Berliner Hauptbahnhof gesehen haben, machen Mut, dass es hier zu einer wirklich solidarischen Hilfe für die Menschen kommt. Eine solche Reaktion erwarte ich von ganz Europa. Es zerreißt einem doch das Herz, wenn man diese zerteilten Familien in Berlin ankommen sieht, die ihre Männer im Krieg zurücklassen mussten.